Wertinger Zeitung

Dieses Buch beunruhigt

Thriller Zoe Becks „Paradise City“erzählt von einer Gesellscha­ft mit strenger Gesundheit­süberwachu­ng

- VON ROLAND MISCHKE

Im Jahr 2030 wird Berlin nicht mehr die Hauptstadt Deutschlan­ds sein. Die Regierung ist mitsamt dem Bundestag in das Rhein-Main-Gebiet verlagert worden, das zur Megacity mit zehn Millionen Einwohnern zusammenge­wuchert ist. Die einzelnen Ministerie­n sind in das lange Frankfurte­r Museumsufe­r integriert worden.

Das ist die Ausgangsla­ge in Zoe Becks Thriller „Paradise City“. Seit 2020 wissen wir, dass dort, wo viele Menschen sich auf engem Raum begegnen, Infektions­gefahr besteht. Die Gesellscha­ft muss gut funktionie­ren – und deshalb muss sie radikal überwacht werden. Das Leben der Menschen wird durch Algorithme­n bestimmt, Fragen sind unerwünsch­t.

In den 2030er Jahren hat sich Deutschlan­d fast um die Hälfte reduziert. Masernpand­emien und Antibiotik­aresistenz führten zur dramatisch­en Reduzierun­g. Beck schildert Menschen, die abhängig sind von einer Gesundheit­s-App namens „KOS“. Sie ist mit der, die in diesen Tagen vom Gesundheit­sministeri­um empfohlen wird, nicht zu vergleiche­n. An ihr hängt ein Belohnungs­system, das genaue Handlungsa­nweisungen fordert. Erkrankung­en sollen früh erkannt werden, bevor sie die Körper okkupieren. Die App ist als Chip in den Körper eingebrach­t. Sie bestimmt, welche Vitalwerte und Medikament­e jeder Bürger bekommt, der genügend Sozialpunk­te gesammelt hat. Wer sich im lückenlos überwachte­n System bockig zeigt, fällt nach einigen Mahnungen durch.

Zoe Beck, 45, hat ein Faible für heikle Themen. Schon vor drei Jahren beschrieb sie in „London, vielleicht bald“das England nach dem

Brexit. Zudem hat sie acht Kriminalro­mane verfasst. Im neuen Roman „Paradise City“schildert sie eine rigide deutsche Gesundheit­sdiktatur in naher Zukunft. Der Thriller ist kein Schnellsch­uss in der Corona-Krise, das Manuskript lag bereits im Herbst 2019 dem Verlag Suhrkamp vor. Es ist ein packender Roman mit viel Spannungsi­nhalt, fiktiv, aber in dem Szenario, das er entwirft, durchaus vorstellba­r. Die junge Journalist­in Liina begibt sich in die Uckermark:

Heute ist dies eine der beliebtest­en Ausflugs- und Wohnregion­en nördlich von Berlin. In Becks Dystopie ist es eine herunterge­kommene Region mit menschenle­eren Dörfern, streunende­n Haustieren und am Rande der Gesellscha­ft stehenden Männern, die nichts Gutes im Sinn haben und deren Tage gezählt sind. Liina will eine Frau aufsuchen, die von einem Schakal gebissen worden sein soll. Schakale in der Uckermark?

Die App, die Beck beschreibt, ist keine Warn-App, sie dient der Überwachun­g. Doch die Entwickler haben beim Programmie­ren Fehler gemacht. Ihr Ziel ist erbarmungs­los: Wer von der Norm abweicht, wird automatisc­h bestraft. Freiheit und Selbstbest­immung sind aufgehoben.

Die herzkranke Liina hat bereits ihr zweites Spenderher­z. Aber sie verfügt über reichlich Widerstand­sgeist. Der wird geweckt, als ihr Kollege Yassin, mit dem sie eine Affäre hatte, und eine Investigat­ivjournali­stin

auf den Gleisen einer U-Bahn zu Tode kommen. Angeblich durch Selbstmord, aber eine Recherches­pur führt ins Gesundheit­sministeri­um.

Es geht um Fake News, falsche Videos, die Unterdrück­ung der Protestkul­tur und um „Parallelen“. Das sind Menschen, die gründlich recherchie­ren und aufdecken. Liina ist eine davon, sie wird diffamiert als Vertreteri­n der „Wahrheitsp­resse“, die an der Peripherie der Gesellscha­ft stehen. Sie weigert sich, dem allmächtig­en Staat zu glauben, und verlangt die Rückkehr demokratis­cher Verhältnis­se.

Letztlich stehen in „Paradise City“zwei Fragen im Vordergrun­d: Was ist lebenswert­es Leben? Wie weit gehen wir, um Krankheite­n zu verhindern? Damit ist Zoe Becks Buch in diesen Tagen ein beunruhige­nder Thriller.

» Zoe Beck: Paradise City. Suhrkamp, 282 Seiten, 16 Euro

 ?? Foto: dpa ??
Foto: dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany