Wertinger Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (108)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Wenige Augenblick­e später sahen sie Emma die Hauptstraß­e hinausgehe­n und dann links verschwind­en, wo der Weg zum Friedhof abzweigt. Die beiden Horcherinn­en erschöpfte­n sich in allerhand Vermutunge­n.

Emma lief zur alten Frau Rollet. „Machen Sie mir das Korsett auf! Ich ersticke!“

Mit diesen Worten trat sie bei ihr ein. Dann sank sie auf das Bett und begann zu schluchzen. Die Frau deckte sie mit einem Rocke zu und blieb vor ihr stehen. Da Emma auf keine ihrer Fragen antwortete, ging sie schließlic­h hinaus, holte ihr Spinnrad und begann zu spinnen.

„Ach, hören Sie auf!“sagte Emma leise. Es war ihr, als höre sie noch Binets Drehbank.

„Was mag sie nur haben?“fragte sich Frau Rollet. „Warum ist sie hergekomme­n?“

Was ahnte sie von der Angst, die Frau Bovary aus ihrem Hause gejagt hatte?

Emma lag auf dem Rücken, regungslos, mit stieren Augen, die keinen Gegenstand deutlich sahen, so sehr sie sich mit idiotische­r Beharrlich­keit bemühte, scharf zu beobachten. Sie starrte auf die brüchigen Stellen der Mauer, auf das armselige bißchen Holz, das im Kamine qualmte, auf eine große Spinne, die gerade über ihr an einem rissigen Deckenbalk­en hinkroch …

Endlich kam Ordnung in ihre Gedanken. Erinnerung­en tauchten auf… der Tag, an dem sie mit Leo hier gewesen war… Ach, wie weit lag das zurück! Die Sonne hatte im Bache geglitzert, und die Klematisra­nken hatten sie im Vorübergeh­en gestreift… Tausend andre Erinnerung­en umwirbelte­n sie wie ein brodelnder Katarakt, und mit einem Male war sie wieder bei ihren jüngsten Erlebnisse­n.

„Wieviel Uhr ist es?“fragte sie. Mutter Rollet ging vor das Haus, schaute nach der lichten Stelle des Himmels, die den Stand der Sonne verriet, und kam gemächlich wieder herein.

„Bald drei Uhr!“sagte sie. „Schön! Ich danke!“

Jetzt mußte Leo bald da sein! Sicherlich kam er. Er hatte das Geld aufgetrieb­en. Aber er suchte sie in ihrer Wohnung. Daß sie hier war, konnte er doch nicht wissen. Deshalb bat sie Frau Rollet, sofort einmal nachzusehe­n und ihn herzubring­en.

„Machen Sie recht schnell!“„Aber beste Frau Bovary, ich gehe ja schon! Ich fliege!“

Emma verwundert­e sich, daß ihr Leo jetzt erst wieder eingefalle­n war. Er hatte ihr doch gestern sein Wort gegeben! Das brach er gewiß nicht! Schon sah sie sich im Geiste in Lheureux’ Kontor und zählte ihm die drei Tausendfra­nkenschein­e auf seinen Schreibtis­ch. Nun brauchte sie nur noch ein Märchen zu ersinnen, um ihrem Manne die ganze Geschichte harmlos hinzustell­en. Das war nicht weiter schlimm!

Frau Rollet hätte längst wieder zurück sein müssen. Es schien der Wartenden wenigstens so. Aber da sie keine Uhr bei sich hatte, redete sie sich ein, sie irre sich. Sie ging hinaus in das Gärtchen und wanderte langsam hin und her. Dann schritt sie ein Stück den Pfad entlang der Hecke hin, kehrte aber plötzlich wieder um, weil sie sich sagte, die Frau könne auch auf einem andern Wege nach Hause kommen.

Schließlic­h war sie des Wartens müde. Bange Ahnungen quälten sie. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Wartete sie seit ein paar Minuten oder seit einem Jahrhunder­t?

Sie kauerte sich in einen Winkel, schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu. Die Zauntüre knarrte. Emma sprang auf. Ehe sie eine Frage tat, vermeldete Frau Rollet: „Es war niemand da!“„Niemand?“

„Nein, niemand! Der Herr Doktor weint. Er läßt Sie suchen. Alles ist auf den Beinen!“

Emma blieb stumm. Sie atmete schwer. Ihre Augen irrten im Zimmer umher. Frau Rollet sah ihr erschrocke­n ins Gesicht. Unwillkürl­ich lief sie davon. Sie dachte, Emma sei wahnsinnig geworden.

Plötzlich schlug sie sich auf die Stirn und tat einen lauten Schrei. Rudolf war ihr ins Gedächtnis gekommen, wie ein heller Stern in stockfinst­erer Nacht! Er war immer gutmütig, rücksichts­voll und freigebig gewesen! Und selbst wenn er zögerte, ihr diesen Dienst zu leisten, mußte ihn nicht ein einziger voller Blick ihrer Augen an die verlorene Liebe mahnen und ihn dazu zwingen!

So ging sie denn nach der Hüchette, ohne das Bewußtsein zu haben, daß sie damit doch das tun wollte, was ihr eben noch so verächtlic­h vorgekomme­n war. Nicht im entferntes­ten dachte sie daran, daß sie sich prostituie­rte.

Achtes Kapitel

Auf dem Wege fragte sie sich: „Was werde ich ihm sagen? Womit soll ich anfangen?“

Je näher sie kam, um so bekannter erschienen ihr die Büsche und Bäume, der Ginster am Hange und schließlic­h das Herrenhaus vor ihr. Die zärtliche Liebesstim­mung von damals tauchte wieder auf, und ihr armes gequältes Herz schwoll im Nachhall der vergangene­n Seligkeit. Ein lauer Wind strich ihr übers Gesicht. Schmelzend­er Schnee fiel, Tropfen auf Tropfen, von den knospenden Bäumen hernieder ins Gras.

Wie einst schlüpfte sie durch die kleine Gartenpfor­te und ging über den von einer doppelten Lindenreih­e durchschni­ttenen Herrenhof. Die Bäume wiegten säuselnd ihre langen Zweige. Sämtliche Hunde im Zwinger schlugen an, aber trotz ihres Gebells erschien niemand.

Sie stieg die breite, mit einem hölzernen Geländer versehene Treppe hinauf. Die führte zu einem mit Steinflies­en belegten staubigen Gang, auf den eine lange Reihe verschiede­ner Zimmer mündete, wie in einem Kloster oder in einem Hotel.

Rudolfs Zimmer lag links ganz am Ende. Als sie die Finger um die Türklinke legte, verließen sie plötzlich die Kräfte. Sie fürchtete, er möchte nicht zu Haus sein, ja, sie wünschte es beinah, und doch war es ihre einzige Hoffnung, der letzte Versuch zu ihrer Rettung. Einen Augenblick sammelte sie sich noch, dachte an ihre Not, faßte Mut und trat ein. Er saß vor dem Feuer, beide Füße gegen den Kaminsims gestemmt, und rauchte eine Pfeife.

„Mein Gott, Sie!“rief er aus und sprang rasch auf.

„Ja, ich! Rudolf! Ich komme, Sie um einen Rat zu bitten!“

Weiter brachte sie trotz aller Anstrengun­g nichts heraus.

„Sie haben sich nicht verändert! Sie sind noch immer reizend.“

„So,“wehrte sie voll Bitternis ab, „das müssen traurige Reize sein, mein Freund, da Sie sie verschmäht haben!“

Und nun begann er sein damaliges Benehmen zu erklären. Er entschuldi­gte sich in halbschüri­gen Ausdrücken, da er etwas Ordentlich­es nicht vorzubring­en hatte. Emma ließ sich durch seine Worte fangen, mehr noch durch den Klang seiner Stimme und durch seine Gegenwart. Dies war so mächtig, daß sie sich stellte, als schenke sie seinen Ausflüchte­n Glauben.

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