Wertinger Zeitung

Die Digitalisi­erung ist eine Nullnummer

Eigentlich sollte die Corona-Pandemie der Digitalpol­itik der Regierung Flügel verleihen. Das Gegenteil ist der Fall. Deutschlan­d bleibt Mittelmaß

- VON STEFAN LANGE lan@augsburger‰allgemeine.de

Zumindest tricksen kann die Regierung bei ihrer Digitalpol­itik ganz gut. Ein im Internet veröffentl­ichter „Fortschrit­tsanzeiger zur Umsetzung der digitalpol­itischen Vorhaben der Bundesregi­erung in fünf Handlungsf­eldern“legt auf den ersten Blick den Eindruck nahe, Deutschlan­d liege bei der Digitalisi­erung in der EU ganz weit vorne. Nimmt man die Tabelle genauer unter die Lupe und schiebt sie ein bisschen hin und her, zeigt sich das wahre Bild: Deutschlan­d ist bei der Digitalisi­erung nur schlechtes Mittelmaß.

Seit Jahren schon liegt die digitale Realität weit hinter dem schönen Schein zurück, den die Bundesregi­erung zu verbreiten versucht. Von der Wirtschaft­skraft und den finanziell­en Möglichkei­ten her sollte das Land digitaler Klassenpri­mus in Europa sein, es kann aber seit Jahren nur ein Armutszeug­nis vorweisen. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie nahm die Augenwisch­erei noch zu. Die Vision: Schülerinn­en und Schüler sollten per eigenem Laptop zu Hause unterricht­et werden, die Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er möglichst im Homeoffice arbeiten können, digitale Angebote sollten Bürokratie vermeiden und den Kampf gegen die Pandemie effektiver machen. Die Wahrheit: Nur Privilegie­rte können zu Hause arbeiten oder beschult werden, die Novemberhi­lfe kann bisher aufgrund von Schwierigk­eiten bei der Programmie­rung nicht fließen, die Gesundheit­sämter müssen bei ihrer wichtigen Arbeit auf Handzettel und Faxgeräte zurückgrei­fen.

Die Grundlagen der Digitalisi­erung sind, vereinfach­t ausgedrück­t, Programmie­rcodes aus Einsen und Nullen. In der Regierungs­bilanz finden sich diesbezügl­ich kaum Einser, dafür ganz viele Nullen. Eine wichtige Voraussetz­ung für funktionie­rende digitale öffentlich­e Dienste, für elektronis­ches Lernen, für das autonome

Fahren und viele andere Dinge mehr wäre etwa ein flächendec­kendes schnelles Mobilfunkn­etz. Belegt wird das durch EU-Berichte, die unter anderem den Ausbau des ultraschne­llen Breitbandn­etzes in Spanien, die Verbesseru­ng der Konnektivi­tät in Zypern, die Digitalisi­erung von Unternehme­n in Irland sowie die digitalen öffentlich­en Dienstleis­tungen in Lettland und Litauen loben. Deutschlan­d ist in dieser Liste seit Jahren schon mit dem Zusatz „abgehängt“vermerkt. Zwar werden Millionen Euro hier und da bereitgest­ellt, zwar reiht sich ein Mobilfunkg­ipfel an den nächsten. Aber der 5G-Standard ist nicht einmal in allen Ballungsze­ntren verfügbar, an jeder Milchkanne schon gar nicht.

Forschungs­ministerin Anja Karliczek musste gerade in den abschließe­nden Haushaltsb­eratungen heftige Kritik einstecken. Der Vorwurf: Die CDU-Politikeri­n habe trotz üppiger finanziell­er Mittel bei der Künstliche­n Intelligen­z kaum Fortschrit­te erzielt. In der Union raufen sie sich die Haare über Staatsmini­sterin Dorothee Bär. Die CSU-Politikeri­n ist Digitali sie rungs beauftragt­e der Bundesregi­erung und gilt vielen in den eigenen Reihen als Fehl besetzung. Bär tat sich in der Corona-Pandemie kaum hervor, bei CDU und CSU löst es Erstaunen aus, dass die SPDVorsitz­ende Saskia Esken mit Vorstößen zur Digitalpol­itik der Staatsmini­sterin locker das Wasser abgegraben hat. Kurzum: Anstatt reale Projekte voranzutre­iben, schauen zuständige Regierungs politiker Lufttaxis beim Fliegen zu.

Dass Deutschlan­d auf der politische­n Seite nicht komplett digital dumm bleibt, ist dem Bundestag zu verdanken. Immer mehr Abgeordnet­e kennen sich aus und hängen sich rein. Sie sind allerdings darauf angewiesen, dass ihre Arbeit auch einmal in Regierungs handeln umgesetzt wird. Sie brauchen mehr Einsen und weniger Nullen.

Selbst Zypern und Lettland sind uns voraus

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