Bergauf geht hier gar nichts
Tourismus Wintersport in Deutschland? Das war einmal. Mindestens bis 20. Dezember stehen die Lifte still. In Österreich öffnen sie nächste Woche wieder. Warum sich deutsche Urlauber darüber kaum freuen können und die Allgäuer Betriebe eine Talfahrt fürcht
Bolsterlang/Wien Es ist die Zeit der offenen Briefe. Erst schrieben der Deutsche Skiverband und diverse andere Verbände „an die politischen Entscheidungsträger in Deutschland“. Ein fast schon verzweifelter Appell, das Skifahren nicht zu verbieten. Es fehle „die inhaltliche Auseinandersetzung mit den in den letzten Monaten detailliert ausgearbeiteten Hygiene- und Schutzmaßnahmen“. Der Wintersport sei nicht gleichzusetzen mit Party-Tourismus und Après-Ski-Events. Stattdessen sei er ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, gesund sowieso. Und zudem „ein unverzichtbarer Wirtschaftsfaktor für den gesamten Tourismus im Alpenraum“. Doch mindestens bis zum 20. Dezember ruht der Wintersport in Deutschland.
Mindestens. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ist im Kampf gegen die Corona-Pandemie gewillt, die Lifte noch länger zu schließen.
Ganz anders Österreich. Der politisch bestens vernetzte Präsident des Österreichischen Skiverbandes, Peter Schröcksnadel – er ist nebenbei millionenschwerer Ski-Unternehmer – erhöhte noch am Montag den Druck und schickte Bundeskanzler Kurz ebenfalls einen offenen Brief. Darin schrieb Schröcksnadel von einer „internationalen Kampagne gegen den Wintersport“und forderte die Regierung auf, für einen „Saisonstart ohne Verzögerung“zu sorgen. Die Regierung hat seinen Befehl befolgt, oder eben nicht, wie man es denn sehen mag. Schon vor der offiziellen Pressekonferenz der Regierungsspitze zum Wintertourismus an diesem Mittwoch sickerte die wichtigste Information durch. Seilbahnen und Lifte sollen – oder besser gesagt müssen – nach dem 7. Dezember in Betrieb gehen. Für diese gilt nämlich eine „Betriebspflicht“in Österreich, die dem Eisenbahnrecht fußt. Hotels und Gastronomie aber – und das ist die große Einschränkung – bleiben demnach weiterhin zu, und zwar bis in den Januar hinein, wie die Tageszeitung Standard schrieb. Wann genau sie wieder aufsperren dürfen, war noch am Dienstagnachmittag Gegenstand von intensiven Verhandlungen zwischen den Tourismusverantwortlichen und der Regierung.
In Bolsterlang im Allgäu ist die große Politik kein Thema – weder die deutsche noch die österreichische. Aber in dem kleinen Ort sind deren Auswirkungen zu sehen. Das Sportgeschäft ist an diesem Vormittag geschlossen. Auf einem
Zettel an der Türe steht, dass es momentan nur von 15 bis 18 Uhr geöffnet hat. Im Dorfladen ein paar Meter weiter herrscht gähnende Leere. Ein paar Semmeln liegen vorne in der Auslage, daneben eine einsame Seele. Die Verkäuferin erzählt, dass hier so gut wie nichts los sei, wenn die Skifahrer ausbleiben. „Eigentlich rentiert es sich nicht, den Laden überhaupt aufzusperren. Aber es gibt hier ja keinen anderen.“Dass es bald losgehen könnte mit der Skisaison, glaubt sie nicht. Nicht mehr. „Wahrscheinlich muss ich jetzt dann auch in Kurzarbeit.“
Hinter einer durchsichtigen Plastikwand steht Katharina Martin in der Gästeinformation von Bolsterlang und gibt sich deutlich optimistischer. „Ich glaube, dass wir an Weihnachten Skifahren können“, sagt sie. Viele Gäste hätten schon im vergangenen Winter gebucht, aber natürlich sei die Unsicherheit überall groß. Gefühlt jedes zweite Haus der Gemeinde vermietet Zimmer an Touristen. Bliebe das Skifahren verboten, hätte das massive Auswirkungen. Auf die Pensionen und Hotels, auf die Skischule vor Ort, auf den Skiverleih, auf die Gastronomie. Alles hängt mit allem zusammen – und (fast) alles hängt vom Tourismus ab.
Das gilt in Österreich mindestens genauso sehr wie in den bayerischen Alpen. Dass die Seilbahnen in Betrieb gehen, sei vor allem für die einheimische Bevölkerung in den Tourismusregionen Tirol, Vorarlberg, Salzburg und Kärnten wichtig, sagt Mario Gerber, ÖVP-Landtagsabgeordneter in Tirol und stellvertretender Obmann der Bundessparte Tourismus und Freizeitwirtschaft der Wirtschaftskammer Österreich. Für ihn ist dies ein „starkes Signal“, schließlich „brauchen wir auch die einheimische Bevölkerung für den Wintertourismus“, so Gerber im Gespräch mit unserer Redaktion. Doch auch er betont, dass die Sache für die österreichischen Seilbahnbetreiber natürlich „ein Verlustgeschäft“sei, solange wegen der Hotelschließungen die Touristenströme ausbleiben.
Aber: „Gesundheit geht vor“, wird Gerber, der auch selbst in Tirol als Tourismusunternehmer tätig ist, nicht müde zu betonen. „90 Prozent der Betriebe haben sich dafür ausgeauf sprochen, nicht aufzusperren.“Es nutze eben alles nichts, wenn in Deutschland – wo die meisten Gäste in Tirol herkommen – „keine Urlaubsstimmung“herrsche und hüben wie drüben die Infektionszahlen zu hoch seien.
Von entspannter Vorfreude auf die Skisaison ist über der Grenze zu Deutschland wahrlich nichts zu spüren. Wilfried Tüchler, ein groß gewachsener Mann mit schlohweißem Haar, sitzt in seinem Büro in der Talstation der Hörnerbahn. Die Sonne blinzelt durch den Morgennebel. Aus den Schwaden schält sich das Allgäu in seiner bezaubernden Schönheit, überzuckert von den ersten Schneeflocken des Winters. Hinter dem Gebäude steigen die Seilzüge der Hörnerbahn steil nach oben. Eine einsame Schneekanone faucht Kristalle in die Bergluft. „Wir haben jetzt mal mit dem Beschneien begonnen“, sagt Tüchler und schaut aus dem Fenster. Die Temperaturen sind tief genug. Geplant hätten sie den Saisonstart für das Wochenende rund um Nikolaus gehabt. Daraus wird nichts. Und keiner weiß, wann es tatsächlich losgeht.
Für Tüchler ist diese Ungewissheit das größte Problem. „Wir können nicht genau sagen, ob wir unsere Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken müssen oder nicht.“Im Laufe der Woche seien die letzten Revisionsarbeiten erledigt. „Dann schauen wir, wie es weitergeht.“Der Geschäftsführer glaubt nicht mehr daran, dass er vor den Feiertagen aufmachen darf. Ginge das Weihnachtsgeschäft verloren, würde das im Fall der Hörnerbahn einen Verlust von bis zu 40 Prozent des Winterumsatzes bedeuten.
Tüchlers Verständnis dafür, dass das Skifahren von den strengen Corona-Maßnahmen betroffen ist, hält sich in engen Grenzen. Im Sommer habe das Hygienekonzept funktioniert. Abstände, Maskenpflicht, begrenzte Kapazitäten in den Kabinen. Diskussionen mit Maskenverweigerern. „Wir haben keine Atteste akzeptiert.“An schönen Tagen habe man bis zu 1500 Personen befördert. Im Winter könnten es an Spitzentagen bis zu 3500 werden, „aber das verteilt sich“, sagt Tüchler. „Aus meiner Sicht besteht keine große Ansteckungsgefahr. Dafür müssen sich die Leute aber auch an die Regeln halten.“
Dass im benachbarten Österreich die Skisaison starten soll, „würde uns natürlich wehtun. Von Sonthofen ist man in einer halben Stunde im Tannheimer Tal“. Die 14-tägige Quarantäne, in die sich inzwischen auch Tagesausflügler nach ihrer Rückkehr aus Österreich begeben müssen, lässt den Geschäftsführer nur müde schmunzeln. Im Fernsehen bei „Anne Will“habe er den bayerischen Ministerpräsidenten neulich gehört. Dort sei er gefragt worden, wie das kontrolliert werden soll. „Der Söder hat geantwortet, dass man einen Skifahrer ja daran erkenne, dass er Skier oben auf dem
Auto hat. Das ist ja wohl das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Natürlich gibt es Leute, die sehr vorsichtig sind und sich an die Regeln halten. Aber der Skifahrer, der fahren will, der fährt.“
Knapp 20 Kilometer weiter südlich arbeitet Jörn Homburg. Er ist Marketingchef der Bergbahnen Oberstdorf und Kleinwalsertal mit insgesamt 48 Anlagen. Und auch er sieht die Planungsunsicherheit als eines der größten Probleme. „Alle reden vom Skifahren, aber es hängt ja noch sehr viel mehr dran. Skiverleiher, Skischulen, Sportgeschäfte, Gastronomie. Das geht bis in den Handel hinein. Wenn wir kein Geld verdienen, womit sollen wir im nächsten Jahr investieren?“
Homburg beklagt die „Nichtnachvollziehbarkeit“von Entscheidungen, denn für ihn sei es nicht nachvollziehbar, Skifahren zu verbieten. Der einzige geschlossene Raum der Bergbahn sei die Kabine. Aber: „Da bin ich unter zehn Minuten, die Kabine ist komplett durchlüftet und ich habe einen Mund-Nasen-Schutz an.“Skifahren sei nach den Vorfällen in Ischgl „zum Buhmann“geworden. „Söder ist mit Sicherheit kein Skifahrer. Sonst würde er wissen, dass Skifahren nicht per se Après-Ski ist.“
Ähnlich wie in Bolsterlang laufen auch in Oberstdorf und im Kleinwalsertal die Vorbereitungen trotz der Unsicherheit weiter. „Wir haben zum Beispiel 30 Ranger eingestellt, die im Skigebiet auf die Einhaltung der Hygienemaßnahmen achten“, sagt Tourismus-Experte Homburg. Noch hat er Hoffnung, dass an Weihnachten die Skilifte öffnen dürfen. „Mein Bauchgefühl sagt mir eher den 10. Januar, aber die Hoffnung stirbt zum Schluss.“Dass die Konkurrenz in Österreich viel früher aufmachen darf, habe man zähneknirschend akzeptiert. „Was sollen wir machen? Wir finden es nicht richtig, aber wir werden damit leben und versuchen, es zu verkraften.“
Auch Österreichs Lifte werden Verluste machen
Hier im Allgäu verstehen sie die Welt nicht mehr