Wertinger Zeitung

Alles unter Strom

Popkultur Erst war sie das Werkzeug unscheinba­rer Rhythmuskn­echte. Dann kam der Verstärker – und die E-Gitarre wurde zum Symbol: für Rebellion, für Protest, für ein Leben als Rockstar. Eine Verneigung vor dem Instrument, das seit 100 Jahren die Massen ele

- VON RONALD HINZPETER

Burgau Eigentlich ging es ihm vor allem um den Lärm, dieses verzerrte Krächzen, das die Nachbarsch­aft so unglaublic­h nervt. Mit seiner allererste­n Gitarre klappte das natürlich nicht, die hatte sich der kleine Hermann Skibbe aus Burgau im Kreis Günzburg noch aus Legosteine­n gebaut und mit Gummibände­rn „besaitet“. Doch dann bekam er die alte Akustische von seinem Opa, die ließ sich nicht nur richtig spielen, sondern auch laut machen: „Ich habe mit Knetmasse ein Mikrofon draufgekle­bt und das Ganze mit einem Radio-Kassetten-Rekorder verstärkt, dann habe ich mich auf den Balkon gestellt und damit die Nachbarn verschreck­t“, erzählt Skibbe heute mit sichtliche­m Vergnügen, „das war mörderisch verzerrt. Und dann diese infernalis­ch pfeifende Rückkopplu­ng.“

Man muss sich den damals halbwüchsi­gen Hermann wohl als glückliche­n Menschen vorstellen. Heute verdient er mit der Gitarre seinen Lebensunte­rhalt, ist Musikprodu­zent, Texter, Satiriker, Festivalor­ganisator und Bandleader. Terrorisie­ren will er im Alter von 55 Jahren niemanden mehr, er schätzt die E-Gitarre vor allem als extrem vielseitig­es Instrument, mit dem sich hart und laut rocken lässt. Allerdings fehlte der Stromgitar­re lange die nötige Energie.

Vor rund 100 Jahren mühten sich die ersten Tüftler, die Sechssaiti­ge zu verstärken. Sie haben damit langfristi­g nicht nur die Gitarriste­n aus ihrem Dasein als Rhythmuskn­echte befreit, sondern auch noch die Welt verändert, denn drei Akkorde in der richtigen Lautstärke können ebenso gut Unruhen befeuern wie riesige Menschenma­ssen in Liebe vereinen.

In den Jazzbands der 20er Jahre des vorigen Jahrhunder­ts hatten die Gitarriste­n wenig zu melden. Sie schrubbten auf ihrer „Schlaggita­rre“, wie sie damals hieß, den Rhythmus. Als Solisten nach vorne zu treten wie der Mann mit dem Saxofon oder der Trompete blieb für sie ein unerfüllba­rer Traum: Ihr Instrument war schlicht zu leise, um sich gegen Bläser und Schlagzeug durchzuset­zen. Erste Versuche mit einem elektrisch­en Tonabnehme­r blieben zunächst erfolglos. Lloyd Loar, leitender Ingenieur bei der Firma Gibson, entwickelt­e dann einen elektrisch­en Tonabnehme­r, den er allerdings in eine Geige einbaute. Für Aufmerken sorgte Henry „Hank“Kuhrmeyer, der 1928 die Gitarre „Stromberg Electro“auf den Markt brachte. Über eine Metallstan­ge wurden die Schwingung­en des Korpus auf Magneten im Instrument übertragen, die an einen kleinen Verstärker angeschlos­sen waren.

Doch erst die „Bratpfanne“brachte die Musik so richtig zum Kochen. So hieß die erste elektrisch­e Seriengita­rre, die 1932 auf den Markt kam. Und wer hat’s erfunden? Ein nach Los Angeles ausgewande­rter Schweizer namens Adolph Rickenbach­er, der seinen Namen zum legendären Markenbegr­iff „Rickenback­er“amerikanis­ierte. Die „Frying Pan“enthielt einen von dem Texaner George Beauchamp entwickelt­en Tonabnehme­r. Der funktionie­rte schon damals so, wie er heute immer noch funktionie­rt: Die Schwingung­en der Stahlsaite­n erzeugen in einer Magnetspul­e einen schwachen Strom. Dieses Signal lässt sich beliebig verstärken und über einen Lautsprech­er hörbar machen. Der wichtigste Schritt zum elektrisch­en Blues und Rock ’n’ Roll war getan, auch wenn die „Frying Pan“ein sehr spezielles Instrument war, nämlich eine aus Aluminium gegossene Steel-Gitarre für die zu jener Zeit populäre, schmachten­djammernde Hawaii-Musik.

Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die elektrifiz­ierte Gitarre zum erschwingl­ichen Masseninst­rument. Der Dank der Saiten zupfenden Zunft gebührt dem Radiotechn­iker Leo Fender, der 1950 die erste in Serie gebaute elektrisch­e „Brettgitar­re“auf den Markt brachte, die völlig ohne hohlen Resonanzkö­rper auskam. Wie es sich für einen Radiotechn­iker gehörte, nannte er das zunächst Esquire getaufte Modell wenig später in Broadcaste­r (Sender, Sprecher), später in Telecaster (von Television) um. Sie gilt heute als vielleicht historisch wichStromg­itarre überhaupt. Doch die erfolgreic­hste und meist kopierte E-Gitarre aller Zeiten schuf Fender 1954, die Stratocast­er – eine Ikone der Popmusik. Sie gilt wegen ihrer Vielseitig­keit als die Rock-Axt schlechthi­n.

Die Elektrifiz­ierung befreite nicht nur die frustriert­en Rhythmuskn­echte, sondern sie machte der Gitarre schlicht Beine. Wer sie spielte, konnte in den Mittelpunk­t treten und dank der nötigen Lautstärke Bühne und Publikumsm­assen beherrsche­n. Junge Rock ’n’ Roller und später die Beatmusike­r bekamen nun eine Waffe in die Hand, mit der sie die bornierte Erwachsene­nwelt aufmischen konnten.

1965 etwa, als die Rolling Stones durch Deutschlan­d tourten, versuchte die Politik so erschrocke­n wie vergeblich das Abendland zu retten. Die Regierung von Oberbayern musste entscheide­n, ob die Musik der Stones kulturwürd­ig sei. Klare Antwort: Nein, denn „durch zahlreiche elektrisch­e Tongeräte wird die Musik in einem Maße verstärkt, dass sie des Charakters der Musik im üblichen Sinne weitgehend entkleidet und schier als

Lärm“anzusehen ist. Mit einer Gitarre und einem bis zum Anschlag aufgerisse­nen Verstärker ließen sich unerhörte Klänge kreieren, die Protest und Provokatio­n mit Sex und Sinnlichke­it paarten. Ende der 70er ging es dann beim Punk völlig unsinnlich um Frust über die herrschend­en Verhältnis­se und möglichst viel Krawall. Ohne den Lärm hübsch hässlich verzerrter Gitarren wäre das kaum denkbar gewesen.

Heute hat die E-Gitarre als akustische­s Schießgewe­hr ausgedient, mit ihr werden weder Rebellione­n angezettel­t noch Eltern erschreckt. „Früher konnte man das noch mit einem Led-Zeppelin-Riff machen“, sagt Hermann Skibbe, „aber das klappt nicht mehr, weil denen das ja gefällt. Schockeffe­kte mit der E-Gitarre? Das geht nicht mehr.“An ihre Stelle seien die unterirdis­chen Texte deutscher Rapper getreten, die gespickt seien mit Schimpfwör­tern. Da braucht es keine gewaltige Lautstärke, um bei den Alten den Hals anschwelle­n zu lassen.

Ulrich Teuffel sieht das ähnlich. Das Fachmagazi­n Gitarre & Bass hat ihn mal den „Popstar unter den deutschen Gitarrenba­uern“getigste nannt. Instrument­e aus seiner Werkstatt im Neu-Ulmer Stadtteil Holzschwan­g befinden sich etwa in den Händen von ZZ-Top-Gitarrist Billy Gibbons, von Metallicas Kirk Hammett oder von Filmmusik-Mogul Hans Zimmer. Dass die E-Gitarre zum Symbol für Aufbegehre­n und Rebellion werden konnte, liegt seiner Ansicht nach daran, dass sie leicht zu spielen ist – „da braucht man geringere Fähigkeite­n als beim Klavier“– und dass sie sich leicht verstärken ließ. Darüber hinaus biete sie unendlich viele Möglichkei­ten, den Klang zu manipulier­en, ihn zu verzerren, ihn auch bewusst hässlich zu machen. Und weil die Saiten nun mal in der Regel angeschlag­en werden, bekomme das Instrument zusätzlich eine aggressive Note – daher sei es für Rebellion prädestini­ert.

Auch wenn mit der Strom-Axt heute keine Protestbew­egungen mehr angeführt werden, funktionie­rt sie nach Meinung von Ulrich Teuffel immer noch als „Bildmacht“. Wer sich mit einer E-Gitarre zeigt, produziert im Kopf des Betrachter­s jede Menge Bilder, die alle etwas mit „wild und unangepass­t“ zu tun haben. Für Ulrich Teuffel steht sie schlicht als Symbol für die Popkultur.

Als solches dankt sie allerdings gerade ab. Das zumindest befand die Washington Post vor drei Jahren in einem aufsehener­regenden Artikel, der in Anspielung auf einen BeatlesSon­g betitelt war mit den Worten „Why my guitar gently weeps“, also „Warum meine Gitarre sanft weint“. Im Bild ging eine Gitarre in Flammen auf. Die Kernthese: Gitarrenba­uer befänden sich in einer Krise, zudem gebe es keine Idole mehr, weshalb junge Leute keine Gitarren mehr kaufen. Daran stimmte, dass sich damals der Traditions-Gitarrenba­uer Gibson in einer bedrohlich­en Krise befand. Dazu jedoch hatten vor allem geschäftli­che Fehlentsch­eidungen geführt.

Das Musikhaus Thomann in Burgebrach ist der weltgrößte Versand für Musikinstr­umente. Die Hallen der Firma haben das Dorf in der Nähe von Bamberg mittlerwei­le zur Hälfte überwucher­t. Vom „leisen Weinen“der Gitarre hat Marketing-Leiter Dominic Wagner noch nichts gehört, im Gegenteil. Im Gitarren-Bereich von Thomann gehe es seit Jahren stetig bergauf: „Der läuft gut.“Gerade in der CoronaZeit suchten viele nach einer Freizeitbe­schäftigun­g. Und die finden sie offenbar beim Gitarrezup­fen.

Das spielt jemandem wie Andy Mooney voll in die Karten. Der Chef von Fender Guitars verkündete vor wenigen Wochen, seine Firma werde heuer das erfolgreic­hste Geschäftsj­ahr der Firmengesc­hichte hinlegen. Das Unternehme­n, das seine legendären Telecaster­s und Stratocast­ers in neuen Varianten, aber im Kern unveränder­t immer wieder neu auflegt, hat seine Marktantei­le deutlich ausgebaut. Auch andere große Hersteller berichten von einem Boom. Selbst der vor drei Jahren am Abgrund stehende Hersteller Gibson kann gar nicht so viele Stücke bauen, wie er verkaufen würde. Während der Anstieg in diesem Jahr sicherlich von Corona und der Suche nach häuslicher Zerstreuun­g befeuert wurde, steckt hinter dem Boom noch etwas anderes: Die Gitarre ist nicht mehr länger ein Instrument für langhaarig­e, breitbeini­g rockende Kerle, denn immer mehr Frauen entdecken es für sich. Laut einer Studie von Fender sind 50 Prozent der Gitarrenbe­ginner mittlerwei­le weiblich.

Heutzutage geht es nicht mehr darum, laut und virtuos Geschwindi­gkeitsreko­rde auf dem Griffbrett zu brechen und cool auszusehen. In der Fender-Studie heißt es, 61 Prozent der neuen Gitarristi­nnen und Gitarriste­n wollen nur Songs mit Freunden spielen und nicht mehr Rockstars werden. Sie möchten einfach nur ihr Leben bereichern.

Das Leben von Hermann Skibbe hat die Gitarre bereits seit Jahrzehnte­n bereichert. Er ist überzeugt, dass es kein vielseitig­eres Instrument gibt. Die Elektrisch­e kann mal klingen wie ein beschleuni­gendes Motorrad, mal wie ein Glockenspi­el oder wie ein kompletter Bläsersatz. Deshalb sagt er: „Die E-Gitarre gibt es noch in 1000 Jahren.“

 ?? Foto: Laurent Gillieron, dpa ?? Bei den Rolling Stones waren die E‰Gitarren in den 60er Jahren mehr als nur Instrument­e, sie waren Waffen gegen das Establishm­ent. Links im Bild Ron Wood mit einer Stra‰ tocaster, rechts Keith Richards mit einer Telecaster.
Foto: Laurent Gillieron, dpa Bei den Rolling Stones waren die E‰Gitarren in den 60er Jahren mehr als nur Instrument­e, sie waren Waffen gegen das Establishm­ent. Links im Bild Ron Wood mit einer Stra‰ tocaster, rechts Keith Richards mit einer Telecaster.

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