Wertinger Zeitung

„Nicht alles lässt sich in neun Monaten lösen“

Interview Kultusmini­ster Michael Piazolo hat gerade einen der schwierigs­ten Jobs Bayerns. Jetzt schickt er die Schüler in den Wechselunt­erricht. Wo er noch digitalen Aufholbeda­rf sieht und was er Schülern rät, die sich nicht sicher fühlen

- Interview: Sarah Ritschel

Herr Piazolo, sind Sie gerade gerne Kultusmini­ster?

Michael Piazolo: Ja. Es ist natürlich eine Herausford­erung. Aber man kann auch viel gestalten. Klar gibt es Dinge zu lösen, die nicht immer einfach sind – aber wir können auf der anderen Seite einiges voranbring­en, wofür man sonst Jahre braucht. Zum Beispiel bei der Digitalisi­erung: Was wir in den vergangene­n neun, zehn Monaten umsetzen konnten, das ging sonst in vielen Jahren nicht. Wir können viel erproben – nehmen Sie unsere Teamlehrkr­äfte oder die Schulassis­tenten. Also: Kultusmini­ster zu sein ist herausford­ernd, aber auch deshalb eine spannende Aufgabe. Ich mache sie gern.

Ministerpr­äsident Söder ist zuletzt bei schulische­n Entscheidu­ngen vorgepresc­ht, hat Sie etwa bei der Verlängeru­ng der Weihnachts­ferien dem Vernehmen nach am Montagaben­d angerufen und am Dienstag die Nachricht verkündet. Es ist schon eine herausford­ernde Zusammenar­beit, oder? Piazolo: Der Ministerpr­äsident ist keiner, der die Öffentlich­keit scheut. Das mache ich aber auch nicht. Es ist eine gute Zusammenar­beit, wir haben auch bei den Ferien miteinande­r gesprochen und uns geeinigt. In diesen Zeiten ist meine feste Überzeugun­g, dass man sich als Team sieht. Es ist ganz normal, dass der Ministerpr­äsident auch einmal Dinge kommunizie­rt, die mit Schule zu tun haben. Ich brauche mich nicht über mangelnde Medienpräs­enz zu beklagen. Es ist für mich kein Streitpunk­t, wer was zuerst verkünden darf.

Seit kurzem gilt die Vorgabe, dass Schulen in Regionen mit einem Inzidenzwe­rt von 200 Infektione­n binnen sieben Tagen in den Wechselunt­erricht gehen. Viele Seiten hatten dieses Hybridmode­ll zwischen Unterricht im Klassenzim­mer und daheim schon länger gefordert. Warum kommt es jetzt? Piazolo: Wir haben den Wechselunt­erricht im April schon eingeführt, insofern sind Erfahrunge­n da. Jetzt sind über 90 Prozent der Klassen im Präsenzunt­erricht. Im Wechselunt­erricht sind drei, im Distanzunt­erricht vier Prozent der Klassen. Nach der Hotspot-Entscheidu­ng wird der Wechselunt­erricht prozentual zunehmen. Bei Corona ist nicht abzusehen, wie es in einem Monat aussehen wird. Es ist normal, dass man regelmäßig nachschärf­en muss.

Wie sieht der perfekte Wechselunt­erricht aus?

Piazolo: Er muss schulart- und altersspez­ifisch sein, er muss auch in der Methodik wechseln. Es gilt, die unterschie­dlichen technische­n und pädagogisc­hen Gegebenhei­ten zu berücksich­tigen. Ich halte einen täglichen Wechsel für sinnvoller als einen wöchentlic­hen, weil man da Schüler leichter erreicht, sie in kürzeren Abständen in der Schule hat und auch die Chancenger­echtigkeit besser realisiere­n kann. Schulunter­richt eins zu eins zu streamen, über fünf Stunden hinweg, halte ich aus pädagogisc­her Sicht nicht für sehr sinnvoll. Aber die Profis sind vor Ort, es ist nicht die Aufgabe des Kultusmini­sters, in eine Schulstund­e einzugreif­en. Wir geben Empfehlung­en.

Ist jeder Lehrer in der Lage, sowohl von seiner Ausstattun­g als auch von seinem Können her, einen produktive­n Digitalunt­erricht zu halten?

Piazolo: Wir haben wirklich große Sprünge unternomme­n, die man sich vor fünf Jahren in diesem Tempo gar nicht vorstellen hätte können. Dafür möchte ich den Lehrkräfte­n danken: Sie haben wirklich vieles gut hinbekomme­n. Über 90000 Lehrer haben an unseren OnlineFort­bildungen teilgenomm­en, allein am Buß- und Bettag haben sich 16000 Lehrkräfte digital fortgebild­et. Insofern hat der Unterricht mit digitalen Medien einen großen Schub bekommen. Aber in neun oder zehn Monaten lässt sich bei dem großen Thema Digitalisi­erung sicherlich nicht alles lösen.

Hätte man früher anfangen müssen? Piazolo: Man muss klar kommunizie­ren, dass in den vergangene­n Jahren, gerade auch zwischen 2000 und 2017, einiges bei der Digitalisi­erung verschlafe­n wurde – in Deutschlan­d insgesamt. Auch bei den Schulen gab es Nachholbed­arf. Da sind wir jetzt auf einem guten Weg. Als ich angefangen habe, hatten wir in Bayern für Digitalisi­erung noch ein Förderprog­ramm über 212 Millionen. Jetzt haben wir zwei Milliarden für die nächsten Jahre. Die bringen wir mit Hochdruck auf die Straße, aber das geht nicht von heute auf morgen.

Welche drei Herausford­erungen bei der Digitalisi­erung sind entscheide­nd? Piazolo: Für mich war es sehr wichtig, dass wir die Schülerlei­hgeräte verwirklic­ht haben. Die sind in Corona-Zeiten entscheide­nd, um Chancenger­echtigkeit herzustell­en. Jetzt geht es noch darum, dass sie an den Schulen auch entspreche­nd eingericht­et sind und dass der Zugriff auch möglichst gut funktionie­rt. Was ich auch entscheide­nd finde und wo wir auch weiter vorangekom­men sind, ist die Lehrerfort­bildung. Drittens haben wir jetzt die Möglichkei­t, Digitalisi­erung nach Hause zu den Schülern zu bringen. Vorher war sie ja eher für den Präsenzunt­erricht gedacht. Deshalb braucht es die Lernplattf­orm Mebis und Videokonfe­renztools.

Manche Maßnahmen – etwa die versproche­nen 600 Stellen für Systemadmi­nistratore­n oder Dienst-Laptops für Lehrer, kommen noch nicht an den Schulen an. Sie haben selbst gesagt, dass heuer wohl noch kein Dienstgerä­t bei Lehrern unter dem Weihnachts­baum liegen wird. Warum nicht? Piazolo: Die Geräte sind gerade auch für die Zeit nach Corona. Wir wollen Lehrer-E-Mail-Adressen einrichten, sind damit auch schon gestartet. Cloud-Lösungen werden kommen, damit Verwaltung­saufgaben digital erledigt werden können, zum Beispiel die Notenverwa­ltung. Ich habe immer gesagt: „Wir brauchen Dienstgerä­te für unser Personal.“Nur: Bis vor ein, zwei Jahren haben das viele nicht eingesehen. Der offizielle Beschluss wurde bundesweit im September ausgearbei­tet, jetzt sind wir dabei, das mit unseren Kommunen abzustimme­n und dann wird es umgesetzt. Das ist ein großer Erfolg. Wir müssen bedenken: Wenn man für Lehrer in der ganzen Bundesrepu­blik Laptops anschaffen möchte und das im September beschließt, ist es natürlich eine Utopie, das bis Weihnachte­n zu schaffen. Aber trotzdem legen wir ein hohes Tempo vor.

Wir bekommen Briefe von Schülern, die beschreibe­n, wie sie im Bus, auf den Gängen und vor Schultoile­tten in Pulks warten müssen und die sich an der Schule nicht sicher fühlen. Lehrer berichten von ihrem Unbehagen, sich täglich dutzenden Haushalten auszusetze­n. Was ist Ihre Botschaft an sie? Piazolo: Wir haben bei Schülern und Lehrkräfte­n die ganze Bandbreite wie in der Gesellscha­ft auch: Diejenigen, die vorsichtig­er, vielleicht auch ängstliche­r sind und die, die unbesorgte­r sind. Die Sicherheit der Schüler und Lehrkräfte ist oberste Priorität. Und wir tun sehr, sehr viel dafür. Unsere Hygieneplä­ne, die Masken, unser Lüftungspr­ogramm. Trotz allem: In der Pandemie ist ein gewisses Risiko nicht auszuschli­eßen. Deshalb kann ich gut verstehen, dass es diese Unsicherhe­it gibt. Ich kann uns allen nur raten, auf sich und den anderen zu achten. Mir ist es wichtig, dass wir über Corona auch im Unterricht sprechen, dass wir genau hinhören, was die Schüler bewegt. Wir wissen noch nicht, was das alles auch auf psychische­r Ebene für Auswirkung­en hat.

Heißt das, dass die Schulleite­r Abhilfe schaffen sollten, wenn Schüler sich unsicher fühlen?

Piazolo: Nicht nur die Schulleite­r – auf die kann man nicht alles abwälzen – sondern alle. Wo ein Risiko besteht, müssen wir versuchen es zu minimieren. Durch Entzerren der Anfangszei­ten des Unterricht­s, durch Verstärker­busse, aber auch durch die Aufforderu­ng zur gegenseiti­gen Rücksichtn­ahme. Wenn man sieht, dass jemand keine Maske trägt, sollte man ihn dazu auffordern. Wenn man zu eng steht, gibt es auch die Möglichkei­t, vielleicht einen Bus später zu nehmen.

Sie haben das Abitur vom April in den Mai verschoben. Rechnen Sie also damit, dass bis April Schulen nicht mit normalem Unterricht planen können? Piazolo: Ich glaube, der Begriff Normalität passt nicht in die jetzige Zeit. Selbstvers­tändlich müssen wir von Woche zu Woche schauen. Gerade, was das Abitur betrifft, können im ersten Halbjahr etwa durch Distanzund Wechselbet­rieb nicht überall alle Leistungen entspreche­nd erbracht werden. Deswegen haben wir den Zeithorizo­nt erweitert. Unser Prinzip ist immer: faire Bedingunge­n für unsere Schülerinn­en und Schüler.

 ?? Foto: Matthias Balk, dpa ?? Michael Piazolo ist seit 2018 bayerische­r Kultusmini­ster. Davor saß er zehn Jahre lang als Schulexper­te für die Freien Wähler in der Opposition.
Foto: Matthias Balk, dpa Michael Piazolo ist seit 2018 bayerische­r Kultusmini­ster. Davor saß er zehn Jahre lang als Schulexper­te für die Freien Wähler in der Opposition.

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