Letzte Chance für David
Neuer Tagesroman Am Montag startet Selma Lagerlöfs „Der Fuhrmann des Todes“
Bei dem hübschen alten Brauch des Brautstrauß-Werfens soll anlässlich einer Hochzeit dasjenige Mädchen ermittelt werden, das angeblich als nächste glückliche Braut vor den Traualtar treten wird. Gespielt wird bei diesem Brauch – ironisch oder nicht – mit Sehnsüchten und Hoffnungen.
Die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf aber, 1909 die erste Literaturnobelpreisträgerin überhaupt, spielt in ihrem kurzen Roman „Der Fuhrmann des Todes“(1912) mit der Weitergabe und Übertragung eines alles andere als begehrten Status: Derjenige, der in der Silvesternacht kurz vor Mitternacht als Letzter stirbt, hat im kommenden Jahr die Aufgabe, als Fuhrmann des Todes die Seelen Verstorbener aus ihrem Körper zu erlösen.
Lagerlöf (1858–1940) bediente sich dabei einer bretonischen Sage. Und auch weil es auf Silvester zugeht, bringen wir ihr Buch ab Montag als nächsten Tagesroman unserer Zeitung. Aber natürlich nicht nur deswegen … Und auch nicht nur wegen der ansteckenden Krankheit, die darin eine Rolle spielt… Selma Lagerlöf entwarf hier nicht nur einen Schauerroman und eine Gespenstergeschichte in der Tradition des 19. Jahrhunderts, sondern auch eine Sozialvision, einen sozialen Appell, dessen Ende auf die sowohl christlich als auch menschlich zu lesende Bitte hinausläuft: „Gott, lass meine Seele zur Reife kommen, bevor sie geerntet wird.“Oder auch: Lasse mich ein guter Mensch werden.
Dies ist nämlich durchaus wünschenswert bei David, diesem gewalttätigen Alkoholiker. Er ist es, der – mal wieder angetrunken – in der Silvesternacht zusammenbricht und nun für ein Jahr die Aufgaben vom Fuhrmann des Todes zu bewältigen hat. Ihm gegenüber steht Edit, eine Sozialhelferin, die in ihrer Heilsarmee-Menschenliebe stets David und seiner Familie helfen wollte, aber letztlich nicht wirklich helfen konnte, stattdessen sich sogar noch bei
David mit der Tuberkulose ansteckte. Und nun liegt sie an Silvester todkrank im Bett – und sie wird die Erste sein, die David als Fuhrmann des Todes aufzusuchen hat. Es werden weitere Todgeweihte folgen, die David besonders liebten, denen David aber besonders zusetzte: sein Bruder und dann auch seine Frau, die aus Verzweiflung sich und die gemeinsamen Kinder töten will. Davids Reise von Opfer zu Opfer aber wird den gewalttätigen Alkoholiker zunehmend läutern – bis er zumindest Aufschub erhält, um gutzumachen, was noch gutzumachen ist.
Ein Märchen? Auch. Aber zugleich auch eine Sozialgeschichte mit christlichen Motiven und einer Frau, die voller unbedingter Menschenliebe einen Mann rettet – noch eine beliebte literarische Konstellation besonders des 19. Jahrhunderts. Schuld – Liebe – Sühne: ein wiederkehrendes Motiv bei der sozialpolitisch engagierten Selma Lagerlöf.
Und dann ist da noch die Tuberkulose. Lagerlöfs Schwester starb an ihr und auch deren kleine Tochter. Schon in ihrem weltberühmten Roman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“(1906) hatte Selma Lagerlöf die seinerzeit noch nicht bekämpfbare Seuche aufgegriffen. Im „Fuhrmann des Todes“, letztlich angeregt von der schwedischen Vereinigung zur Bekämpfung der Tuberkulose, gab die Literatin dann durchaus praktische Hinweise zur Bewältigung dieser gefährlichen Ansteckungskrankheit.
Übrigens: Dass die erste, seinerzeit stumme Verfilmung von Lagerlöfs „Fuhrmann des Todes“(1921) noch im Jahr 2012 von Kritikern zum besten schwedischen Film überhaupt gewählt wurde, spricht auch für die Erzählkraft der Literaturnobelpreisträgerin Lagerlöf.