Deutschland einig Lieferland
Corona Teil-Lockdown heißt auch: Salat und Whisky Sour bitte nicht an Tisch 17, sondern zu Hausnummer 25b, dritter Stock. Weil sich Restaurants neu erfinden müssen, profitiert vor allem ein Bringdienst-Monopolist aus den Niederlanden. Ein Abend im Liefera
Ingolstadt Wäre 2020 nicht ein solches Seuchenjahr, das Restaurant ums Eck offen und eine gesellige Runde zu sechst legal, würde Michelle Kuberski an diesem Mittwochabend mit gespreizten Fingern unter dem Teller Jakobsmuscheln auf Salsa-Chutney servieren, dem Herren im Sakko noch einen Sauvignon blanc andrehen, höflich nach dem gewünschten Garpunkt des Chateaubriands fragen, 800 Gramm US-Beef, 98 Euro. Was man eben so macht in einem gehobenen Steakhouse wie dem Vesta in Ingolstadt.
Kuberski aber sitzt in einem silberfarbenen Renault Clio und düst durch den Vorabend, die Jacke mit der Fellkapuze noch an, der Blick mal auf der Straße, mal auf der Minikarte ihres Handys, hinten auf der Rückbank drei Burger und einen Salat. Erster Kunde, die 22-Jährige hält am Grünstreifen, es muss schnell gehen. „Ganz oben“, sagt die nette Stimme aus der Gegensprechanlage. Im dritten Stock lässt ein Mann mit gescheitelten Haaren 1,50 Euro in Kuberskis Hände plumpsen: „Das ist für dich!“Ein guter Start in die Lieferschicht.
Deutschlands Gastronomen müssen sich gerade neu erfinden. Seitdem die Bundesregierung im November angesichts der Corona-Pandemie erneut die Zügel angezogen hat, bleiben Restauranttüren verschlossen. Zum zweiten Mal nach dem Covid-Frühling. Wer überleben will, liefert. Oder? Ganz so einfach ist es nicht, wie sich noch herausstellen wird. Aber das trifft aktuell auf so vieles im Gaststättengewerbe zu.
Weil Steaks im Pappkarton recht unsexy sind und kaum medium-rare ankommen, bietet das Vesta in Ingolstadt jetzt also Burger und Pinsa, eine ovale Urform der Pizza. Claudio Fiorella, 43, Geschäftsführer, sitzt an einem seiner leeren Tische und sagt: „Wie mit allem im Leben kann man sich da reinfuchsen.“
Angefangen hat er mit Smoothies in Nürnberg, dann vor acht Jahren in einem Innenhof in Ingolstadts Altstadt das Steakhouse aufgemacht, irgendwann Burger auf die Karte genommen, sein Geschäft Anfang des Jahres um einen Pinsa-Verkaufswagen im Süden der Stadt erweitert und eher zufällig kurz vor dem ersten Lockdown begonnen, von beiden Standorten zu liefern. Der Konkurrenz war er damit bereits voraus.
Seit Sommer ist der Laden die alleinige Kommandozentrale. Der Pizzaofen steht neben der Bar. Auf manchen Tischen stapeln sich LeitzOrdner, auf anderen die Burgerkartons. Ein echter Lieferdienst. Flotte: sechs Autos, insgesamt neun Fahrer, die Hälfte ohnehin fest angestellt, die andere Hälfte als Aushilfen.
Erste Raucherpause, zweite Fahrt. Ein Salat und ein Whisky Sour in den Süden. Michelle Kuberski zieht die Augenbrauen entzückt nach oben. Das sei ja das Interessante am Liefern, sagt sie. Mal zu sehen, wie die Menschen so leben. Von der Vorstadtvilla bis zum Hochhausblock. Alles dabei. Auch ein Mann, der ihr vor ein paar Tagen nur in Unterhose die Tür aufmachte. Der Whisky-Trinker ist zivilisierter. Vollbart, Hoodie, kein Trinkgeld. Kurz vor 19 Uhr, zurück ins Vesta.
Die Lieferbranche hat es jetzt sogar in den Dax geschafft. Als der Zahlungsdienstleister Wirecard nach einem Milliardenbetrug aus dem deutschen Börsen-Leitindex flog, rückte Delivery Hero nach. Ein Unternehmen, das als Berliner Start-up gegründet wurde, seinen Umsatz im dritten Quartal 2020 auf 776 Millionen Euro verdoppelte und nun in über 40 Ländern Lieferdienste anbietet. Kurioserweise nur nicht in Deutschland.
Ende 2018 verkaufte Delivery Hero seine deutschen Marken Lieferheld, Foodora und Pizza.de an den niederländischen Konzern Just Eat Takeaway. Dessen Deutschland-Sparte wiederum hat jetzt eine Quasi-Monopolstellung, kooperiert mit mehr als 20000 Restaurants, Tendenz stark steigend, trägt den Namen Lieferando und warb mal mit anzüglichen Kalauern wie „Isch will mit dir Penne“.
Der Alltag auf der Straße sei weniger zum Schenkelklopfen, sagt Laura Schimmel von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). In 14 deutschen Städten bietet Lieferando den Restaurants einen eigenen Lieferservice an – für 30 Prozent Provision. „Die Fahrer dort haben eine Kettenbefristung. Die Verträge laufen nur ein Jahr“, sagt Schimmel. So sei es schwierig, Betriebsräte zu organisieren. Sechs hat die NGG schon aufgebaut. Aber die Mitbestimmung werde vom Arbeitgeber nach wie vor nicht gelebt.
Auch das Thema Lohn sei schwierig. „In Nürnberg verdient ein Takeaway-Kurier 9,50 in der Stunde, absoluter Niedriglohnsektor. Der Rubel rollt, aber es wird nicht nach unten an die Leute auf der Straße verteilt“, kritisiert Schimmel.
Im Frühjahr haben LieferandoKuriere eine Petition gestartet: für Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und bessere Arbeitsbedingungen. Mehr als 11000 Menschen haben sich schon eingetragen. Ein verbessertes Hygienekonzept gebe es jetzt zumindest, sagt Schimmel.
Den durchschnittlichen Stundenbasislohn ohne Kilometerpauschalen, andere Boni und Trinkgeld taxiert ein Lieferando-Sprecher auf 10,50 Euro. „Wir machen keinen Gewinn mit der Auslieferung. Wir bezuschussen das als sinnvolle Investition“, sagt er. Und die Kettenbefristungen? „Auch Gewerkschaftler befinden unser Modell für vergleichsweise gut. Das ist ja schon mal ein Lob.“
Im Vesta in Ingolstadt plingt es wieder. Neben seinem Laptop, auf dem Claudio Fiorella die Lieferrouten koordiniert – maximal drei Kunden auf einmal, Pinsa nie auf der dritten Route, die wird schlecht – steht der Lieferando-Terminal. Etwa acht von zehn Bestellungen laufen über dieses kleine, orangefarRostock. bene Tablet, sagt Fiorella. In Ingolstadt gibt es keine eigenen Lieferando-Fahrer, das Steakhouse nutzt den Bringdienst wie gut 90 Prozent aller Partner-Restaurants nur als Vermittler. 13 Prozent Grundprovision muss er dafür abdrücken.
Die Menschen sollen zu Hause bleiben. Sie sollen sich an Weihnachten zurücknehmen, Silvester nicht feiern. Und Michelle Kuberski? Die muss raus. Jeden Tag. Vier Stunden. Türklinken drücken, Bestellschachteln übergeben, Geld abkassieren. „Eigentlich habe ich wenig Bedenken. Manche Kunden haben sogar eine Maske auf, wenn ich komme.“Nach jeder Fahrt wäscht und desinfiziert sie sich die Hände.
Anfangs sei sie skeptisch gewesen, wollte nicht liefern. Im Oktober ist sie zur stellvertretenden Serviceleitung befördert worden, verdient damit mehr als die zwölf Euro ohne Trinkgeld, die Fiorellas Aushilfen in der Stunde bekommen. Nach vier Wochen Liefererfahrung sagt sie jetzt: „Es ist besser, als komplett zu Hause zu sitzen. So lerne ich Ingolstadt viel besser kennen. Und meine eigene Musik kann ich auch hören.“Kuberski kommt ursprünglich aus Über ihr Handy sprudeln die Charts durch den Renault.
19.35 Uhr, sechster Kunde, eine Altstadt-WG. „Die laufen wir“, treibt sie an, hängt sich die Thermobox wie eine Gucci-Tasche ums Handgelenk und marschiert los. Drei Minuten später öffnet ein junger Mann mit schrägem Lächeln die Tür. Aus der Wohnung dringt Marihuanageruch. Heißhungerattacke.
Aus Verbrauchersicht hat der Lieferzwang durchaus einen Vorteil. Auf der Couch landen jetzt nicht mehr nur die Klassiker – Pizza, Ente süßsauer und Sushi. Es gibt jetzt auch Äthiopisch, Portugiesisch, den bayerischen Schweinebraten. Der Markt ist in Bewegung, der Ansturm riesig. In den Hochphasen des Lockdowns warteten Gaststätten bis zu vier Wochen auf ihre Registrierung bei Lieferando. Wöchentlich schickt der Bringdienst Werbemails: „Entdecke diese neuen Restaurants!“
Für bis zu 1,80 Euro pro Bestellung können Betriebe auf den Suchlisten nach oben rutschen, bestätigt der Lieferando-Sprecher. „Ich war immer in den Top Ten. Plötzlich fand ich mich zwischen Rang 50 und 70 wieder. Fair ist das nicht“, findet Claudio Fiorella.
Aber er will sich nicht beschweren. Das Kuriose ist ja: Das Vesta macht aktuell mehr Umsatz als in normalen Zeiten. Fiorella rechnet vor: Mit dem Liefern verdient er gut die Hälfte eines normalen Restaurantbetriebs. Vom Staat gibt es 75 Prozent des Umsatzes im Vorjahresmonat. „November und Dezember sind unsere stärksten Monate. Und 2019 war für uns ein Rekordjahr. Das ist unser Glück und das Pech des Staates. Aber im Frühjahr würde ich klar draufzahlen.“
Mehr als 38000 Anträge der Gastronomie mit einem Fördervolumen von 723 Millionen Euro gingen im Rahmen der sogenannten Novemberhilfen in Berlin ein, teilt das Bundeswirtschaftsministerium auf Anfrage mit. Dass diese Gelder Restaurantbesitzer gar ins Plus rücken, so wie Fiorella, sei die absolute Ausnahme, sagt Thomas Geppert, Landesgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga in Bayern. Im Gegenteil: Betriebe, die etwa wegen Renovierungsarbeiten im November 2019 geschlossen hatten, gehen komplett leer aus. Laut einer Umfrage des Verbands bietet nur gut die Hälfte der Gastronomen Lieferdienste und To-go-Service an. Ihr Umsatz liegt im Schnitt bei gerade mal 19 Prozent. Fiorella ist also in einer exponierten Lage. Er weiß das.
21 Uhr, letzte Fahrt für Michelle Kuberski. Zwei Burger, ein Helles. Die Straßen sind jetzt fast leer. Eine gelbe Ampel ist nach Kuberskis Deutung oft grün. „Muss ich dich
Steaks im Pappkarton sind recht unsexy
Sie sagt lachend, ihr Fahrstil habe sich leicht geändert
anschieben?“, sagt sie einmal. Oder: „Komm, Schucki, ich lass dich rüber.“Ihr Fahrstil habe sich leicht geändert, gibt sie lachend zu. Ursprünglich, mit dem Bewusstsein einer 16-Jährigen, wollte sie mal eine eigene Bar aufmachen. Jetzt fährt sie eben zwischenzeitlich Essen aus: „Was muss, das muss.“
Aber wie lange muss es noch? Und wie lange geht das noch gut? An diesem Abend – im Vesta herrscht gerade etwas Leerlauf – ploppt die Meldung auf: Bundesregierung verlängert Lockdown bis 10. Januar. Für Gastronomen wird es eine Dezemberhilfe geben. Was danach kommt, ist ungewiss. In Berlin reift langsam die Erkenntnis: Auch eine Bazooka – so werden die großen, im Gießkannenprinzip bewilligten Staatshilfen genannt – hat nur begrenzt Munition.
Fiorella glaubt nicht, dass er vor März wieder öffnen darf. „Bis zum Sommer können wir es uns erlauben“, sagt er. Für viele Konkurrenten ist es dann wohl schon zu spät. Beim Dehoga rechnet man 2021 mit einer Pleitewelle. Anfang nächsten Jahres endet die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. 65 Prozent der bayerischen Gastronomen sehen ihren Betrieb in der Existenz gefährdet. „Langfristig muss man ein Leben mit Corona organisieren. Da gehört das Gastgewerbe dazu. Die Hygienekonzepte funktionieren“, sagt Geppert.
Unterdessen bei Lieferando: 64 Prozent mehr Bestellungen in den ersten drei Quartalen 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Der Mutterkonzern Just Eat Takeaway ist noch mal auf große Einkaufstour gegangen, hat den britischen Lieferdienst Just Eat und den US-amerikanischen Branchenführer Grubhub übernommen.
Der Tag war lang, die Falten unter Fiorellas Augen verraten das schonungslos. Für ein Foto am Ende will er sich noch schnell etwas über den Pulli ziehen. Er geht kurz in den Keller und kommt mit einer knallorangefarbenen Jacke zurück. Von der linken Brust grüßt das Logo eines alten Bekannten: Lieferando. Könnte sein, dass Fiorella das ironisch meint. Jedenfalls lacht er und sagt: „Ohne geht halt nicht.“