Wertinger Zeitung

„Wir müssen jederzeit mit Seuchen rechnen“

Pandemie Der Münchner Zukunftsfo­rscher Jürgen Turek will herausfind­en, wie Corona unser künftiges Leben beeinfluss­en wird. Er sagt, erste Anzeichen der Veränderun­g könne man schon jetzt beobachten

- Interview: Maria Heinrich

Herr Turek, die Pandemie hat die Menschheit mit voller Wucht getroffen. Sie sind Zukunftsfo­rscher – wie wird Corona aus Ihrer Sicht unser künftiges Leben also verändern? Jürgen Turek: Kein Mensch hat eine solche weltweite Pandemie je erlebt. Das ist etwas vollkommen Neues – für alle Länder der Welt. Und genau das ist der entscheide­nde Punkt: Jeder Einzelne wird sich in Zukunft daran erinnern, wie schlimm diese Zeit war, und viele Menschen werden etwas dafür tun, um Pandemien in Zukunft abzuwehren.

Abwehren, aber nicht ausrotten? Turek: Krisen gehören zum menschlich­en Leben dazu. Genauso wie Seuchen und Pandemien. Die Pest, die Spanische Grippe und Ebola waren Angriffe der Natur auf die Zivilisati­on. Solche Attacken auf den Menschen wird es immer geben, damit müssen wir leben.

Das klingt entmutigen­d.

Turek: Ja, aber: Krisen verdanken wir auch zentrale Fortschrit­te unserer Zivilisati­on. Denn es ist eine ganz natürliche Reaktion des Menschen, dass er überlegt: Was kann ich tun, um solche Szenarien in der Zukunft zu vermeiden? Die Pest beispielsw­eise ging im Mittelalte­r auf die Menschheit wie ein Hammer herunter. Doch nach jeder Seuche und Pandemie entwickelt­e man Möglichkei­ten, um damit umgehen zu können: Hygiene, medizinisc­hes Wissen, Medikament­e. Und auch jetzt werden wir wieder überlegen: Was können wir tun, um eine solche Krise nicht noch mal erleben zu müssen oder besser meistern zu können?

War die Corona-Pandemie in gewisser Weise also absehbar?

Turek: Das kann man nicht sagen. Aber dass der Mensch sich immer wieder mit flächendec­kenden Seuchen auseinande­rsetzen muss, damit müssen wir jederzeit rechnen.

Können Sie aus der heutigen Zeit schon Schlüsse auf die Zukunft ziehen? Turek: Ich beobachte erste Anzeichen. Corona hat mit Gewalt politische, wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Veränderun­gen angestoßen. Ich nenne ein paar Stichworte: Globalisie­rung, Digitalisi­erung, Mobilität, Klimaschut­z – Bereiche, wo es auch ohne eine Krise zu bedeutende­n Schritten hätte kommen müssen. Zum Beispiel in Sachen Homeoffice. Das hat sich in kürzester Zeit in vielen Branchen etabliert und war vor der Krise oft noch die Ausnahme in manchen Betrieben. Die Digitalisi­erung hat sich zu einem probaten Mittel entwickelt, um mit der Pandemie umzugehen, weil sie eine gewisse Abschottun­g erlaubt. Dass sich das Ganze mit dieser Wucht entwickelt, hätte niemand gedacht.

Welche Auswirkung­en hat die Pandemie denn noch auf die Zukunft? Turek: Corona ist wie ein Beschleuni­ger. Die Entwicklun­g von Impfstofis­t da ein gutes Beispiel, in welcher rasanten Geschwindi­gkeit Firmen aus verschiede­nen Ländern zusammenar­beiten können. Da haben wir für zukünftige Generation­en eine wichtige Lektion gelernt. Auch der Vergleich mit anderen Ländern in Sachen Krisenmana­gement war wichtig.

Aber was ist mit den ganz kleinen Dingen im Alltag. Dem Händeschüt­teln zum Beispiel – das ja momentan praktisch nicht mehr existiert. Könnten solche Gesten vielleicht sogar komplett aussterben?

Turek: Das glaube ich nicht. Es ist die natürliche Art des Menschen, Kontakt zu seinen Artgenosse­n zu suchen. Menschlich­e Beziehunge­n leben von Nähe. Vom Händeschüt­teln, Schulterkl­opfen, Umarmen und Küssen. Eine Pandemie löst solche über Jahrhunder­te gewachsene­n sozialen Angewohnhe­iten nicht einfach auf.

Was haben Sie als Zukunftsfo­rscher im Zusammenha­ng mit Corona bislang noch beobachtet?

Turek: Ich war überrascht, dass wir in Deutschlan­d ein gut funktionie­rendes Pandemie-Management gehabt haben. Die Kommunikat­ionsfen geschwindi­gkeit zwischen Politik und dem Gesundheit­swesen war beeindruck­end. Damit hätte ich so nicht gerechnet. Allerdings droht dieses Management momentan zwischen Voll- oder Teil-Lockdown im deutschen Föderalism­us etwas zu entgleisen.

Die Leute sehnen sich nach der alten Normalität. Aber können wir überhaupt zu einem Vor-der-Krise zurückkehr­en?

Turek: Die Frage ist, was die alte Normalität ist. In kürzester Zeit entwickeln sich in unserer Gesellscha­ft neue Dinge. Manche banal, andere wälzen unser Zusammenle­ben praktisch komplett um. Die neue Zeit, in die wir hineinlebe­n, hat nicht die Kontur der alten. Sie wird nicht identisch sein können mit der Vergangenh­eit.

Wie arbeiten Sie als Zukunftsfo­rscher denn genau?

Turek: Ich komme von einem Institut der Münchner Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t, dem Centrum für angewandte Politikfor­schung. Dort gibt es die Forschungs­gruppe Zukunftsfr­agen, die sich im Grunde mit der alles umwölbende­n Fragestell­ung beschäftig­t: Wie wollen wir morgen leben? Ich als Politikwis­senschaftl­er untersuche, wie sich aus den jetzt vorhandene­n Daten und Szenarios gesellscha­ftliche Veränderun­gen für die Zukunft ableiten lassen.

Was schauen Sie sich bei Ihren Untersuchu­ngen in Bezug auf Corona an? Turek: In der Zukunftsfo­rschung interessie­rt mich folgende Frage: Wenn wir wieder ein ähnliches Großereign­is hätten wie Corona, wie würde sich eine Pandemie dann besser handeln lassen als bisher? Und mit welchen politische­n Kräften könnten wir kooperiere­n? Schauen wir zum Beispiel in die USA: Mit der alten Trump-Regierung war ein gemeinsame­s Vorgehen gegen Corona unmöglich, etwa bei gemeinsame­n politische­n Aktionen. Die neue Regierung sendet da schon ganz andere Signale.

Jürgen Turek ist Zukunfts‰ forscher am Centrum für angewandte Politikfor‰ schung der LMU Mün‰ chen.

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Foto: Jonas Güttler, dpa Die Corona‰Pandemie hat die Welt fest im Griff, Tag für Tag steigen die Infektions­zahlen weiter an. Die Erfahrunge­n, die die Men‰ schen gerade machen, werden Spuren in der Gesellscha­ft hinterlass­en.
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