Wertinger Zeitung

Nobelpreis und Intimität

Die Dankesrede der Lyrikerin Louise Glück

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es ist äußerlich wie bei Bob Dylan, doch innerlich genau das Gegenteil. Wieder wird am Donnerstag einer Autorenper­sönlichkei­t aus den USA der Literaturn­obelpreis überreicht – und wieder wird es keine persönlich­e Begegnung geben.

Der Sänger, der 2016 durch seinen Star-Status dem Preis neue Aufmerksam­keit bescherte, wollte nicht kommen und sandte als Dankesrede eine Tonaufnahm­e; die Dichterin Louise Glück nun, von der berühmten Auszeichnu­ng aus weitestgeh­ender Unbekannth­eit gerissen, darf wegen Corona nicht kommen und sendet einen Text. Er, damals 75, sprach mit weltlitera­rischen Referenzen (Homer, Melville) über das, was sein berühmtes Singen literarisc­h macht, sie, heute 77, schreibt mit magisch wispernden Stimmen (William Blake, Emily Dickinson) über die Intimität der Literatur.

Es ist ein so kurzer wie schöner Text, den Glück nun vorab im Internet veröffentl­icht hat, so leicht und klar er daherkommt, so klug und vielschich­tig ist er. Denn die New Yorkerin beginnt damit, dass es für sie als Kind von fünf oder sechs Jahren ganz selbstvers­tändlich war, alles in Wettbewerb­en zu messen, der größte von allen für sie war: Welches ist das beste Gedicht der Welt? Dickinsons „I’m Nobody! Who are you?“, Blakes „The Little Black Boy“?

Dabei sind beides Gedichte, die eben nicht zur Welt oder zum dichterisc­hen Über-Ich sprächen, sondern direkt mit dem Lesenden in ein intimes Verhältnis träten – wie ihre eigenen. Und so wenig diese für die Bühne taugten, so sehr hat es sie selbst in Panik versetzt, als sie am 8. Oktober vom Nobelpreis erfahren habe: „The light was too bright. The scale too vast.“Das Licht zu hell, der Rahmen zu riesig…

Ob Louise Glück froh ist, nicht persönlich auf die Bühne treten zu müssen? Den Preis versteht sie als Auszeichnu­ng für die Intimität von Literatur – die in der existenzie­llen Zwiesprach­e von Mensch zu Mensch eminent politisch sein kann. Bei Blakes schwarzem Jungen nach 200 Jahren frappieren­d aktuell, aber auch bei Dickinson: Wer ist ein Niemand? Für wen? Louise Glück ist keiner mehr. Was für sie bedrohlich wirkt. Das aber kann sie von Bob Dylan lernen: Der ist in gleißendem Licht ein Schatten geblieben.

Nachzulese­n www.nobelprize.org/ prizes/literature/2020/gluck/lecture/

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Louise Glück

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