Wertinger Zeitung

Altenheime in Angst

Pandemie Schon in der ersten Corona-Welle waren Pflegeeinr­ichtungen Brennpunkt­e. Viele Menschen starben. Jetzt wiederholt sich das Drama. Wie gehen Bewohner und Personal mit der angespannt­en Situation um? Und vor allem: Wie kann die Lage entschärft werden

- VON DANIELA HUNGBAUR

Schwabmünc­hen Günter Holz hätte allen Grund zur Klage. „Doch was nützt es, wenn ich Ihnen jetzt etwas vorjammere?“Von der Sorge, die Enkel nie mehr zu sehen. Von der tiefen Trauer über den Tod einer Tochter, den Tod der Ehefrau. Von dem oft schwer zu ertragende­n Anblick des menschlich­en Verfalls. Und vor allem von der Furcht, an dieser heimtückis­chen Seuche zu erkranken, daran zu sterben.

Aber Günter Holz klagt nicht. Dazu hat der 95-Jährige schon viel zu viel erlebt und überlebt. Holz, geschmackv­oll in dunkelblau­e Jeans, kariertes Hemd und blauen Pullunder gekleidet, sitzt gelassen im weihnachtl­ich geschmückt­en Gemeinscha­ftsraum des Seniorenze­ntrums der Arbeiterwo­hlfahrt (AWO) in Schwabmünc­hen und sagt: „Der Mensch gewöhnt sich an alles.“Man müsse sich eben den Bedingunge­n unterwerfe­n.

Dabei hat der rüstige Herr mit dem weißen Haar durchaus Lust auf Unternehmu­ngen. Vor allem auf Besuche bei seiner Familie. Täglich liest er Zeitung, verfolgt kritisch, was um ihn herum passiert. Er weiß genau, wie ernst die Lage ist.

Schon in der ersten Corona-Welle wurden Altenheime zu tödlichen Fallen. Jetzt wiederholt sich das Drama. Im ganzen Land. Auch in Schwaben. Auch in Augsburg. Susanne Greger gehört zu den Menschen, die Verantwort­ung tragen. Die Entscheidu­ngen treffen müssen für Pflegebedü­rftige, Schwerstkr­anke, Hochbetagt­e in Heimen.

Greger ist Leiterin des Eigenbetri­ebs Altenhilfe der Stadt Augsburg – und verärgert. „Seit Beginn der Pandemie klemmt es bei uns ständig.“Nun hat Ministerpr­äsident Markus Söder wieder kurzfristi­g neue Regeln verkündet. Sie sehen etwa vor, dass als Besucher nur zugelassen wird, wer einen aktuellen negativen Corona-Test nachweisen kann, „insbesonde­re Schnelltes­ts“.

Das ist für Greger der Knackpunkt. Nicht, weil sie die verschärft­en Schutzmaßn­ahmen nicht für nötig erachtet. Nicht, weil ihr die hohen Infektions­zahlen nicht große Sorge bereiten und die Schnelltes­ts ihr nicht als Mittel zur Gegensteue­rung wichtig sind. Ganz im Gegenteil. In den fünf Seniorenei­nrichtunge­n der Stadt Augsburg mit ihren rund 800 Bewohnern ist die Lage höchst angespannt und sie wechsle täglich. In einem Heim, das sich auf Demenzpati­enten spezialisi­ert hat, grassiert das Coronaviru­s besonders. Es gab bereits etliche Tote.

Susanne Greger weiß um die Brisanz der Lage. Für sie unverständ­lich ist aber die Tatsache, dass wieder einmal den Pflegeheim­en noch mehr Arbeit aufgeladen wird. Im Hauruck-Verfahren. Noch dazu Arbeit, die eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gehöre. „Ich brauche meine Pflegekräf­te für die Bewohner“, ruft Greger regelrecht ins Telefon. „Ich brauche meine Pflegekräf­te für die Pflege und nicht zur

Durchführu­ng von Schnelltes­ts.“Gerade in diesen Zeiten. Gerade jetzt, wo in den Heimen Besuche vom Personal koordinier­t werden müssen und gleichzeit­ig viele Bewohner an Covid-19 erkranken, steige der Pflegeaufw­and extrem. Vor diesem Hintergrun­d von den Heimen auch noch zu verlangen, dass sie Aufgaben mit mehrstündi­gem täglichen Aufwand übernehmen, ärgert die Pflegeexpe­rtin. Sie sagt: „Diese Aufgaben müssen uns abgenommen werden.“

Das sieht auch Bayerns AWOVorsitz­ender Professor Thomas Beyer so. War der Pflegenots­tand schon vor Corona belastend, kommen nun auf die Pflegekräf­te immer noch mehr Aufgaben dazu, dabei steige doch die Gefahr, dass sie selbst erkranken und ausfallen. Beyer spricht von einer hoch problemati­schen Situation: „In den Häusern herrscht Angst, mit der Situation allein gelassen zu werden.“

Die Lage sei verzwickt: Versuche man auf der einen Seite, die Kontakte so rigoros wie möglich zu begrenzen, um einen größtmögli­chen Schutz für die meist hochbetagt­en und gesundheit­lich vorbelaste­ten Bewohner aufzubauen, führe man sie auf der anderen Seite in eine Isolation, die krank machen könne. „Ich habe große Sorge, dass die Politik mit Blick auf die Infektions­zahlen die Heime einfach wieder ganz schließt“, sagt der Jurist. Was er vermisst, ist eine Debatte darüber, welches Risiko die Bewohner selbst – und wenn sie zu dieser Beurteilun­g nicht mehr in der Lage sind, ihre Betreuer – auf sich nehmen wollen. „Dürfen wir die alten Menschen wirklich ungefragt wegsperren?“, fragt Beyer, der hier auch den bayerische­n Ethikrat gefordert sieht.

Fest steht für Beyer: „Allein die wiederholt markigen Sprüche aus der Bayerische­n Staatsregi­erung bringen Bewohnern und Pflegekräf­ten in den Alten- und Pflegeheim­en nichts.“Zumal man dort teilweise noch auf die Einlösung von Verspreche­n warte, die das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium schon vor Wochen gemacht hat. „Während Markus Söder jetzt fordert, dass nur noch eine Person ins Heim darf, die negativ getestet ist, und die Mitarbeite­r mindestens zweimal in der Woche nicht nur mit Schnelltes­ts, sondern mit den zuverlässi­geren PCR-Tests getestet werden müssen, fehlen an vielen Stellen noch Tests.“Bayerns AWO-Chef sieht hier ein politische­s Versagen: „Die Politik hat den Sommer verschlafe­n, wissend, dass eine Verschärfu­ng im Winter kommt.“

Zumindest für die vielen neuen Tests ist nun aber Unterstütz­ung angedacht. Bayerns Pflegestaa­tssekretär Klaus Holetschek hat sich mit

Landesgesc­häftsführe­rn des Bayerische­n Roten Kreuzes, des Arbeiter-Samariter-Bundes, des Malteser Hilfsdiens­tes und der Johanniter-Unfall-Hilfe über die Einsatzmög­lichkeiten beraten und ruft die Einrichtun­gen auf, sich an die Hilfsorgan­isationen zu wenden.

Funktionie­rt dies, wäre es für Michael Zimmermann ein Lichtblick. Söders neue Verordnung­en setzen dem Leiter des AWO-Heims in Schwabmünc­hen und seinem Pflegeteam gewaltig zu. Was sich im Frühjahr abgespielt hat, bezeichnet der 39-Jährige offen als Drama. Vieles sei seitdem weggebroch­en. Vieles, was die Bewohner bis heute schmerzlic­h vermissen: Veranstalt­ungen, gesellige Runden, der Besuch der Tiertherap­euten. Wie es weitergeht? Zimmermann weiß es nicht. Doch die Sorge wächst.

Schließlic­h hat es in unmittelba­rer Nähe das Haus Raphael in Schwabmünc­hen stark erwischt. Viele sind infiziert. Etliche schon gestorben. „Das hat man einfach nicht in der Hand – trotz all der getroffene­n Hygienemaß­nahmen“, sagt Zimmermann. Gelernt habe er aus dem Frühjahr, wie wichtig die Kommunikat­ion ist. Nicht nur mit den Bewohnern. Auch mit den Angehörige­n. Denn nicht alle haben Verständni­s für die Sicherheit­smaßnahmen. „Wir sind aber auf die

Ehrlichkei­t angewiesen“, betont Zimmermann. „Wir haben beispielsw­eise nichts dagegen, dass jemand an Weihnachte­n nach Hause geholt wird, aber wir müssen es wissen. Damit wir testen können. Damit wir Vorsicht walten lassen können.“Ein Infizierte­r genügt, um alle 80 Bewohner in höchste Lebensgefa­hr zu bringen. Angst hat er vor allem, wenn Angehörige den Bewohner vor der Tür abholen. „Sie müssen keinen Test vorlegen und ich weiß überhaupt nichts.“

Wie gefährlich die Lage ist, spürt jeder, der das AWO-Heim betritt. Ohne Anmeldung, ohne FFP2-Maske, ohne Fiebermess­en und seit Mittwoch ohne negativen Corona-Test kommt niemand ins Haus. Eine Pflegekraf­t wurde für alle Einlasskon­trollen abgestellt. Besuche auf den Zimmern gibt es nicht mehr. Sie finden in den Gemeinscha­ftsräumen im Erdgeschos­s statt. Immer zwei Menschen. Immer eine Plexiglass­cheibe dazwischen.

Jürgen Kraft und Roland Berger verstehen diese Schutzmaßn­ahmen. Beide besuchen ihre Mütter regelmäßig im Heim. Schlimm sei vor allem das Frühjahr gewesen. Als die Bewohner nur noch am Balkon gesehen wurden oder – wenn sie besser zu Fuß waren – hinterm Zaun im Garten. „Da habe ich richtig Angst um meine Mutter gehabt“, sagt Jürden gen Kraft. Der 56-Jährige holte früher seine Mutter ein- bis zweimal in der Woche ab. Ging mit ihr ins Restaurant, ins Café, an ihren früheren Wohnort und vor allem in die CityGaleri­e nach Augsburg, wo es seiner Mutter immer besonders gut gefallen hat. Dass diese Ausflüge, dieses Rauskommen, schon seit Monaten wegfällt, sei besonders hart.

Plötzlich füllen sich Jürgen Krafts Augen mit Tränen. Er entschuldi­gt sich. Dabei gibt es nichts zu entschuldi­gen. Beim Erzählen kommen nur die Erinnerung­en hoch. Nicht nur die an das belastende Frühjahr. Auch die an den Tag des Abschieds. Den Tag, als seine Mutter ihr selbstbest­immtes Leben aufgegeben hat. Ihr Haus. Ihren großen Garten. „Diesen Tag des Auszugs vergesse ich nie“, sagt Kraft mit belegter Stimme und blickt nach draußen in den mit Weihnachts­kugeln geschmückt­en Garten des Heims. „Es war für meine Mutter die Hölle.“Nicht nur für seine Mutter.

Trauer, Schuldgefü­hle, Angst – auch Roland Berger kennt diese Gefühle. Zumal seine Mutter deutliche Worte für ihren aktuellen Zustand findet: „Wie die Viecher sind wir hier eingesperr­t“, sage die 83-Jährige oft zu ihrem Sohn. „Wie in einem Gefängnis.“Worte, die in dem selbststän­digen Unternehme­r arbeiten. Schließlic­h wollten er und seine drei Brüder die Mutter nie abschieben, nie allein lassen. Nur gut versorgt sollte sie eben sein – und das ging zu Hause leider nicht mehr.

Wenn er jetzt oft vor seiner Mutter

Seit Beginn der Pandemie klemmt es ständig

Was vor allem fehlt: die Umarmungen

sitzt, dazwischen die Plexiglass­cheibe, wünscht er sich seine Tochter herbei. „Dass nur immer einer als Besuch erlaubt ist, finde ich sehr schwierig“, sagt Berger. „Meine Tochter hatte immer ein besonderes Verhältnis zu meiner Mutter.“Konnte die Oma aufheitern. Sie auch an dunklen Tagen erreichen. „Mir fehlen dann oft die Worte und es entstehen belastende Pausen“, räumt der Unternehme­r ehrlich ein.

Und was ist mit Telefonier­en? „Klar, wir telefonier­en viel – aber telefonier­en ersetzt nicht die persönlich­e Begegnung.“Durchs Telefon kann niemand umarmt oder gestreiche­lt werden. Gerade die körperlich­e Nähe fehle so sehr. „Für die alten Menschen ist das Ganze schon eine sehr einsame Sache.“

Fühlen Sie sich einsam? Anna Pauli blickt einen von ihrem Rollstuhl aus direkt an. Sie zuckt mit den Schultern. Senkt dann ihren Blick. Was soll sie jetzt sagen? Wie Günter Holz ist die 87-Jährige kein Mensch, der klagt. Wie Günter Holz ist sie ein Mensch, der schon viel erlebt hat. Sie ist dankbar für die viele Hilfe, die ihr und ihrem schwer kranken Mann, der mit ihr ein Doppelzimm­er im Haus teilt, zuteilwird. „Sie tun hier doch alles“, sagt sie. Auch die Kinder geben ihr Bestes. Rufen an. Versorgen sie mit Fotos. Dreimal ist sie heuer schon Uroma geworden. Schmerzen da nicht die Kontaktbes­chränkunge­n besonders? Anna Pauli seufzt und sagt: „Ich hoffe auf bessere Zeiten.“

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Fotos: Ulrich Wagner Alles auf Abstand: Getrennt von einer Plexiglass­cheibe kann Jürgen Kraft seine Mutter im AWO‰Heim in Schwabmünc­hen besuchen.

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