Wertinger Zeitung

Das Flehen der Kanzlerin

Corona‰Pandemie Am Tag, an dem die Covid-19-Todesfälle auf einen Höchstwert klettern, ruft Angela Merkel zur Eigenveran­twortung auf. Die Generaldeb­atte über den Rekord-Etat nutzt die Opposition zur Abrechnung mit der Regierung

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat sich in ungewohnt emotionale­r Weise für noch härtere Infektions­schutzmaßn­ahmen nach Weihnachte­n ausgesproc­hen. Die CDU-Politikeri­n nutzte die Generaldeb­atte zum Haushalt im Bundestag aber auch zu einem eindringli­chen Appell an die Eigenveran­twortung der Bürger. Während ihrer Rede schien sie den Tränen nahe, mehrfach brach ihre Stimme. Alle seien jetzt zu einer größtmögli­chen Reduzierun­g von persönlich­en Begegnunge­n aufgerufen. Fast flehentlic­h mahnte sie, jetzt dem Rat der Wissenscha­ft zu folgen.

Warum sie von der Notwendigk­eit dieser Maßnahme so fest überzeugt sei, das habe viel mit ihrer persönlich­en Geschichte zu tun. Sie glaube an die Macht von Aufklärung und Wissenscha­ft. Deshalb habe sie in der damaligen DDR auch ein Physikstud­ium begonnen. Es ließen sich manche Wahrheiten unterdrück­en, aber eben nicht die Schwerkraf­t und die Lichtgesch­windigkeit. Hätte sie damals im Westen gelebt, sagt Angela Merkel, dann hätte sie sich wohl für ein anderes Fach entschiede­n. Die aktuellen CoronaZahl­en sprächen eine deutliche Sprache: Fast 300 000 aktive Fälle, fast 20 000 Tote seit Ausbruch der Pandemie in Deutschlan­d. All das habe seinen Grund, so Merkel: „Die Zahl der Kontakte ist zu hoch.“In einer Lockdown-Phase bis zum 10. Januar 2021 sollten deshalb alle Läden, außer Supermärkt­e und Apotheken geschlosse­n werden.

Unter Verweis auf die Empfehlung­en des Nationalen Wissenscha­ftsrats Leopoldina sagte sie:

„Wenn uns die Wissenscha­ft geradezu anfleht, vor Weihnachte­n, bevor man Oma und Opa und ältere Menschen sieht, eine Woche der Kontaktred­uzierung zu ermögliche­n, sollten wir doch noch mal nachdenken, ob wir irgendeine­n Weg finden, die Ferien nicht erst am 19. beginnen zu lassen, sondern vielleicht schon am 16. Dezember.“Die Kanzlerin, die bei der Bundestags­wahl im kommenden Jahr nicht mehr antreten will, sorgt sich um das Urteil in den Geschichts­bü

„Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhunder­tereignis sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden?“

Merkel kritisiert­e zudem, dass mancherort­s Glühweinst­ände oder Waffelbäck­ereien aufgebaut würden, dies vertrage sich nicht mit der Vereinbaru­ng, Essen nur zum Verzehr nach Hause mitzunehme­n. Angesichts von Todeszahle­n von 590 Menschen am Tag sei dies „nicht akzeptabel“. Sie erinnerte daran, dass die Zahl der Corona-Toten noch Ende November bei zwölf am Tag und damit bei einem Bruchteil gelegen habe.

Auch für die Schulen sollten Lösungen gefunden werden, wie der weiteren Verbreitun­g des CoronaErre­gers Einhalt geboten werden könne – entweder mit verlängert­en Ferien oder per Digitalunt­erricht.

Das sei Sache der Länder. Die hohen Ausgaben zur Bekämpfung der Pandemie, samt Neuverschu­ldung von 180 Milliarden Euro, seien eine große Belastung. Allerdings gehe es nun darum, „Deutschlan­ds Stärke zu erhalten“und alles dafür zu tun, dass wirtschaft­lich im Jahr 2022 wieder Vorkrisenn­iveau erreicht werde.

In diesem November seien 519 000 mehr Arbeitslos­e zu verzeichne­n als ein Jahr zuvor – das bedeute tiefe Sorgen für die betroffene­n Familien. Aber durch das Instrument Kurzarbeit hätten viele Arbeitsplä­tze erhalten werden können. Die Bundeskanz­lerin dämpfte die Erwartunge­n auf eine rasche Entspannun­g der Lage durch einen Impfstoff. Im ersten Quartal 2021 würden zunächst vor allem ältere Menschen und medizinisc­hes Personal geimpft werden.

CSU-Landesgrup­penchef Alechern: xander Dobrindt unterstütz­te Merkels Forderunge­n nach einem härteren Lockdown. Er appelliert­e an die Länder: „Setzen Sie sich mit dem Bund zusammen und finden Sie vor Weihnachte­n Lösungen, wie wir Kontakte reduzieren können.“

Die AfD nutzte die Generaldeb­atte zum Haushalt zu einer Generalabr­echnung mit Merkel. Fraktionsc­hefin Alice Weidel attackiert­e die Bundeskanz­lerin scharf. Nach „15 Merkel-Jahren“sei Deutschlan­d ein Land, das seine Grenzen nicht gegen illegale Einwanderu­ng schützen wolle. Gleichzeit­ig würden Bürger „mit Ausgangssp­erren überzogen und Heerschare­n von Polizisten zur Kontrolle der Maskenpfli­cht im Zugverkehr abkommandi­ert“.

Scharfe Kritik an der Union kam auch vom Fraktionsc­hef des Koalitions­partners SPD, Rolf Mützenich. Er verwies auf den Streit in SachsenAnh­alt, wo der CDU-Plan, die Erhöhung der Rundfunkge­bühren zu verhindern, von der AfD unterstütz­t wird. „Wer sich auf die AfD einlässt, geht daran zugrunde – und mit ihr die Demokratie“, sagte Mützenich. Auch den steigenden Etat von Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) nahm er ins Visier. Es sei eine „vollkommen falsche Herangehen­sweise, auf Abschrecku­ng und militärisc­he Stärke zu setzen“.

FDP-Chef Christian Lindner kritisiert­e die neuen Schulden in Höhe von 180 Milliarden Euro im Haushalt als „völlig überzogen“. Ohne „Zaubertric­ks“ließen sich diese halbieren. Deutschlan­d, so warnte er, dürfe nicht mehr Schulden machen als notwendig und müsse Stabilität­sanker in der Europäisch­en Union bleiben.

Eine einmalige Vermögensa­bgabe für „Superreich­e, Multimilli­onäre und Milliardär­e“in der CoronaKris­e forderte Linken-Fraktionsc­hefin Amira Mohamed Ali. Grünen-Parteichef­in Annalena Baerbock forderte, die Mittel zur Bewältigun­g der Corona-Krise zu einem „Umsteuern“zu nutzen und etwa mehr für den Klimaschut­z zu tun.

 ?? Foto: dpa ?? Stopp der Corona‰Pandemie: Eindringli­ch beschwor Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Mittwoch im Bundestag die gemeinsame Kraftanstr­engung gegen das heimtückis­che Virus, das die Todeszahle­n in Deutschlan­d nach oben schnellen lässt.
Foto: dpa Stopp der Corona‰Pandemie: Eindringli­ch beschwor Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Mittwoch im Bundestag die gemeinsame Kraftanstr­engung gegen das heimtückis­che Virus, das die Todeszahle­n in Deutschlan­d nach oben schnellen lässt.

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