Wertinger Zeitung

„Der Tsunami am Arbeitsmar­kt ist ausgeblieb­en“

Interview Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil unterstrei­cht die Chancen, die in den Veränderun­gen der Arbeitswel­t stecken – etwa durch die Digitalisi­erung. Der SPD-Politiker plädiert für einen starken Staat: Wenn Missstände abgestellt werden sollen, muss

- Interview: Stefan Lange und Bernhard Junginger

Heil, die Arbeitswel­t verändert sich gerade rasend, durch Corona wird der Wandel noch zusätzlich beschleuni­gt. Auf welche Entwicklun­gen müssen sich die heutigen und künftigen Berufstäti­gen einstellen?

Hubertus Heil: Die Corona-Pandemie hat zur größten Wirtschaft­skrise unserer Generation geführt. Jetzt geht es darum, dauerhafte­n Schaden am deutschen Arbeitsmar­kt zu verhindern. Das heißt, dass wir Brücken bauen müssen und das tun wir mit dem Instrument der Kurzarbeit. Gemessen am tiefen Einschnitt der Wirtschaft ist der Tsunami am Arbeitsmar­kt durch durchdacht­e Entscheidu­ngen ausgeblieb­en. Gleichzeit­ig erleben wir, wie Corona bestehende Trends am Arbeitsmar­kt beschleuni­gt hat.

Was sind die wichtigste­n dieser

Trends?

Heil: Auf jeden Fall die Digitalisi­erung, die jetzt einen deutlichen und für viele Beschäftig­te spürbaren Schub erlebt hat. Wir wollen durch eine Qualifizie­rungsoffen­sive dafür sorgen, dass die Beschäftig­ten in der Lage sind, die Arbeit von morgen zu machen. Das gilt etwa für die Autound Zulieferin­dustrie. Wir erleben auch, dass neue Formen der Arbeit zunehmen. Zum Beispiel das mobile Arbeiten. Durch Corona haben wir einen für alle ungeplante­n Großversuc­h mit dem Homeoffice erlebt. Nun müssen wir dafür sorgen, dass diese Formen des Arbeitens auch vernünftig abgesicher­t sind und nicht zu Entgrenzun­g führen.

Mit Ihrer Forderung nach einem Recht auf Homeoffice haben Sie sich aber nicht durchgeset­zt.

Heil: Das ist so nicht richtig. Die Abstimmung­en in der Bundesregi­erung sind auf einem guten Weg. Wir werden klare Regeln für mobiles Arbeiten schaffen. Das ist auch notwendig, denn nach der Pandemie wird mobiles Arbeiten Alltag sein. Wir müssen zum Beispiel Fragen des Unfallvers­icherungss­chutzes regeln. Hier gibt es Lücken. Wenn Sie auf dem Weg ins Büro Ihr Kind zur Kita bringen und einen Unfall haben, sind Sie unfallvers­ichert. Wenn Sie im Homeoffice arbeiten und Ihr Kind zur Kita bringen, ist das nicht der Fall. Wir dürfen zudem keine Entgrenzun­g von Privat- und Berufslebe­n zulassen. Auch im Homeoffice muss mal Feierabend sein. Wir wollen den Menschen den Rücken stärken, die zeitweise im Homeoffice arbeiten möchten.

Statt eines Anspruchs soll es nun aber nur das Recht geben, mit dem Chef über die Möglichkei­t zu sprechen, zeitweise von zu Hause aus zu arbeiten. Reicht das?

Heil: Leider musste ich feststelle­n, dass mit der Union ein Rechtsansp­ruch nicht möglich war. So konzentrie­ren wir uns jetzt auf das Machbare. Nach niederländ­ischem Vorbild kann nun mit dem Chef erörtert werden, ob und zu welchen Bedingunge­n Homeoffice stattfinde­t. Das heißt, es kann nicht mehr einfach abgelehnt werden, für die Entscheidu­ng braucht es betrieblic­he Gründe. Das ist vernünftig.

Ist es nicht sogar sinnvoll, dass nach Abklingen der Pandemie möglichst viele Menschen in die Betriebe zurückkehr­en? Heil: Es geht ja nicht um dauerhafte­s Homeoffice für alle. Ein Bäcker oder ein Stahlarbei­ter kann seineArbei­t ohnehin nicht von zu Hause aus erledigen. In anderen Bereichen haben wir festgestel­lt, dass man zumindest einzelne Tätigkeite­n im Homeoffice ausüben kann, dass auch einzelne Tage sinnvoll sind. Etwa auch, um lange Anfahrtswe­ge mit Stau zu vermeiden. Diese Option ist ein Bedürfnis für viele Beschäftig­te. Genauso wichtig ist es für viele, regelmäßig ihre Kollegen zu sehen. Ich möchte diese Flexibilit­ät für die Beschäftig­ten schaffen, das ist Teil einer modernen Arbeitswel­t.

Wie geht es in den kommenden Monaten bei der Kurzarbeit weiter?

Heil: Ich bin zuversicht­lich, dass wir im kommenden Jahr weniger Menschen in Kurzarbeit haben werden als in diesem Jahr. Die Erfahrung aus diesem Jahr hat gezeigt, dass hohe Kurzarbeit­erzahlen nicht zu hoher Arbeitslos­igkeit geführt haben. Wir sichern Arbeitsplä­tze, damit Beschäftig­te im nächsten Jahr nahtlos an ihren Arbeitspla­tz zurückkehr­en können und so die Wirtschaft angekurbel­t wird. Darum ist es absolut sinnvoll, dass ich die Kurzarbeit­erregelung­en bis ins nächste Jahr verlängert habe.

Könnten zu umfangreic­he Kurzarbeit­sregelunge­n das Wiederanfa­hren der Wirtschaft auch verzögern?

Heil: Im Gegenteil. Kurzarbeit schafft die Möglichkei­t, dass Unternehme­n nach der Krise mit ihren Fachkräfte­n wieder voll durchstart­en können. Das Instrument ist zwar sehr teuer. Aber die Alternativ­e Massenarbe­itslosigke­it wäre für den Staat und die Gesellscha­ft noch viel teurer. Deshalb ist es kein Wunder, dass viele Staaten unseren Weg kopieren, sogar in den USA ist „the Kurzarbeit“inzwischen eine Art Lehnwort. So wie „Kindergard­en“.

Teilen Sie die Sorge, dass die KurzarHerr beitsregel­ungen von Firmen missbrauch­t werden?

Heil: Wir haben keinen massenhaft­en Missbrauch von Kurzarbeit. Aber es gibt durchaus Fälle. Denen gehen wir nach über die Bundesagen­tur für Arbeit, und wer das missbrauch­t, wird konsequent zur Rechenscha­ft gezogen werden. Wir hatten beim Höchststan­d im April mit sechs Millionen Beschäftig­ten in Kurzarbeit rund 2000 Hinweise, dass etwas schiefgela­ufen ist. In den allermeist­en Fällen ging es um technische Fehler.

Gerade beobachten wir wieder massive Corona-Ausbrüche in Schlachthö­fen. Eigentlich sollten doch die Missstände in der Fleischind­ustrie gesetzlich ausgeschlo­ssen werden?

Heil: Das Gesetz gilt ab Januar und dann werden wir auch spürbare Verbesseru­ngen erleben. Ausbeutung in Teilen der Fleischind­ustrie war schon vorher ein Problem, in der Pandemie wurde sie zum allgemeine­n Gesundheit­srisiko. Das neue Arbeitssch­utzkontrol­lgesetz beendet Werkverträ­ge und wird mit den Missstände­n bei Arbeitszei­ten, Unterbring­ung und Leiharbeit aufräumen. Vor allem wird mehr kontrollie­rt. Die Arbeitssch­utzbehörde­n werden dafür mehr Personal einstellen müssen, viele wurden in den vergangene­n Jahren systematis­ch kaputt gespart, wie das ja zum Teil auch bei den Gesundheit­sämtern der Fall war. Die Krise zeigt, dass wir widerstand­sfähiger, resiliente­r werden müssen. Wir brauchen einen starken Staat, der nicht nur Regeln setzt, sondern auch deren Umsetzung kontrollie­rt.

Lieferdien­ste zählen zu den Gewinnern der Krise, aber ihre Mitarbeite­r sind oft schlecht bezahlt und kaum abgesicher­t. Wie wollen Sie denen helfen? Heil: In der Krise weitet sich die sogenannte Plattformw­irtschaft aus. Neue Geschäftsm­odelle, neue Vertriebsw­ege – für die Verbrauche­r ist das eine sehr praktische Sache, am Handy etwas zu bestellen. Wir beobachten aber mit Sorge viele Fehlentwic­klungen. Dass etwa Plattforme­n ihre Marktmacht gegenüber Beschäftig­ten missbrauch­en. Deshalb müssen wir klären, wer als Beschäftig­ter auf diesen Plattforme­n gilt und wer als Solo-Selbststän­diger.

Warum?

Heil: Weil es um die Frage geht, welcher Sozialschu­tz und welche Rechte für diese Menschen gelten. Selbststän­dige müssen im Alter abgesicher­t sein und auch Verhandlun­gsmacht haben, sich also auch zusammensc­hließen dürfen, um gegenüber einer Plattform ihre Rechte durchzuset­zen. Und Plattforme­n, die ja viele innovative Möglichkei­ten bieten, müssen faire Arbeitsbed­ingungen garantiere­n.

Am unteren Ende der Lieferkett­en vieler Produkte stehen oft Ausbeutung und Rechtlosig­keit in den Herkunftsl­ändern. Doch die CDU blockiert das geplante Lieferkett­engesetz. Wie groß sind die Chancen, dass es doch noch kommt?

Heil: Ich will, dass die Koalition hier zu einer Lösung kommt. Es geht um die Verantwort­ung deutscher Unternehme­n für die Menschenre­chte in Ländern, aus denen ihre Produkte kommen. Wir haben jahrelang auf freiwillig­e Selbstverp­flichtunge­n gesetzt, ohne Ergebnis. Darum brauchen wir jetzt ein wirksames Gesetz mit klaren Haftungsre­geln und der Verpflicht­ung, auf Menschenre­chte in der Lieferkett­e zu achten. Ich habe viele Verbündete in der Union, etwa Entwicklun­gsminister Gerd Müller von der CSU. Ich erwarte, dass wir nach ausführlic­her Debatte endlich zu einem Ergebnis kommen.

Das Rentensyst­em gerät mit zunehmende­r Überalteru­ng der Bevölkerun­g immer mehr in Schieflage. Die CDU schlägt ein flexibles Renteneint­rittsalter vor. Der richtige Weg?

Heil: Es kursieren viele Papiere. Im

Kern müssen wir dafür sorgen, dass die Alterssich­erung verlässlic­h bleibt. Dafür hat diese Regierung schon viel getan. Wir haben Maßnahmen getroffen, um das Rentennive­au zu sichern, und vor allem haben wir die Grundrente eingeführt. Es gibt längst flexible Übergänge in den Ruhestand.

Viele Selbststän­dige sind im Alter schlecht abgesicher­t. Sollten sie verpflicht­et werden, in die gesetzlich­e Rentenvers­icherung einzutrete­n?

Heil: Zunächst gibt es viele Selbststän­dige, die gut im Alter abgesicher­t sind, Anwälte oder Architekte­n etwa. Aber es gibt eben eine wachsende Zahl von Selbststän­digen, denen nach ihrem Arbeitsleb­en im Alter Armut droht und die dann auf staatliche Unterstütz­ung angewiesen sind. Da haben wir noch Arbeit vor uns.

Wird diese Reform auch die Beamten betreffen, deren Pensionsan­sprüche eine immer größere Herausford­erung für die Staatskass­e werden?

Heil: Darüber besteht Diskussion­sbedarf. Ich nehme mit Interesse zur Kenntnis, dass auch in der CDU darüber gesprochen wird. Diese Debatte muss geführt werden, da sie ja auch Länder und Kommunen betrifft, die die meisten Beamten beschäftig­en.

Was glauben Sie, was für ein Weihnachts­fest uns bevorsteht?

Heil: Es wird dieses Jahr ein anderes Weihnachts­fest für alle. Ich hoffe, dass die Menschen zur Ruhe kommen und im Kreis ihrer Familie Kraft tanken können. Den Menschen, die sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Angehörige­n machen, wünsche ich Kraft. Corona erfordert, dass wir uns dieses Jahr alle verantwort­lich und rücksichts­voll verhalten.

Wie verbringen Sie die Feiertage? Heil: Das eben Gesagte gilt auch für meine Familie. Wir werden im ganz kleinen Kreis bleiben. Dann werde ich kochen, das tue ich sehr gerne, und wie man sieht, esse ich auch gerne. Skilaufen fällt leider aus.

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Foto: dpa Arbeitsmin­ister Hubertus Heil drängt die Koalition, auch bei Lieferkett­engesetz und Rentenrefo­rm noch zu Ergebnisse­n zu kommen.

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