Schießt Söder über das Ziel hinaus?
Der Freistaat hat erst vor wenigen Wochen den bayerischen Ethikrat ins Leben gerufen. Warum ein Mitglied des Gremiums nun gleich die Sprache des Ministerpräsidenten heftig verurteilt
München Um die harten LockdownMaßnahmen zu verteidigen, rüstet die Politik derzeit auch verbal auf: „Alle vier Minuten stirbt ein Mensch in Deutschland an Corona“, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) jüngst. Und alle 20 Minuten in Bayern. Worte, die sicherlich den einen oder anderen besorgen oder gar in Angst versetzen. Während Coronaskeptiker der Politik dies schon lange vorwerfen, hat sich nun auch der EthikProfessor Christoph Lütge von der Technischen Universität München (TUM) entschieden gegen eine solche Sprache gewandt.
Das Pikante dabei: Lütge ist Mitglied des erst wenige Wochen alten bayerischen Ethikrates, den der bayerische Ministerrat am 1. Oktober 2020 eingesetzt hat, damit dieser Ministerpräsident Söder berät. Lütge stößt sich insbesondere daran, dass Söder jüngst gesagt hatte, dass das Coronavirus derzeit derart in Deutschland wüte, als würde jeden Tag ein Verkehrsflugzeug vom Himmel fallen – mit Hunderten von
Toten. „Das sind aus meiner Sicht irreführende Äußerungen“, sagte der 51-jährige Wissenschaftler gegenüber unserer Redaktion. Normalerweise verzeichne man in der
Bundesrepublik – auch ohne Corona – jeden Tag etwa 2700 Tote, wobei diese Zahl naturgemäß Schwankungen unterliege. Zwar fordere Corona durchaus zusätzliche Todesopfer. „Doch mit dem Flugzeugvergleich wird so getan, als ob jeden Tag auf diese Weise auch viele Kinder und junge Menschen sterben.“
Das sei aber nicht der Fall. Tatsächlich zeigen Zahlen des Robert Koch-Institutes, dass Corona vor allem Menschen im hohen Alter gefährdet und mit dem Tod bedroht. Kinder und jüngere Erwachsene sind aber gar längst nicht so gefährdet. Doch die Drohkulisse sei sprachlich auch an sie gerichtet. „Damit schießt Söder völlig über das Ziel hinaus“, sagt Lütge.
Diese Sprache der Angst verursache überdies sogar selbst Todesopfer. Durch Menschen, die sich, eben durch diese Wortwahl, nicht mehr in Krankenhäuser trauen. Und wichtige und zeitnahe Behandlungen beispielsweise gegen Krebs oder die Folgen von Schlaganfällen oder Infarkten nicht zustande kommen.
„Man soll auch nicht so tun, als hätte man mit dem Thema Wortwahl keine Erfahrung“, sagt Lütge. „Denn das Problem hat es auch schon im ersten Lockdown in der ersten Hälfte des Jahres gegeben.“Auch damals mieden viele Menschen die Kliniken – mit teils fatalen Folgen. „Und außerdem: Jetzt kommt doch bald der Impfstoff.“Lütge würde sich deshalb wünschen, wenn die Sprache wieder optimistischer würde.