Wertinger Zeitung

Rätselhaft­er Abschiebes­topp

Flucht Eine 22-jährige Kurdin sollte ausgefloge­n werden. Plötzlich wendet sich das Blatt. Sie darf bleiben. Ihre Unterstütz­er freuen sich. Doch aufatmen kann die junge Frau noch nicht

- VON STEFANIE SCHOENE

Augsburg Fünf Wochen saß sie schon im Eichstätte­r Abschiebeg­efängnis, am Mittwoch sollte Dilek Agirman vom Münchener Flughafen nach Istanbul gebracht werden. Mit einem Privatflug, so viel hatte man der Kurdin gesagt. Derzeit sitzen nach Auskunft des Landesamte­s für Asyl und Rückführun­g 71 Menschen in den drei bayerische­n Abschiebea­nstalten Eichstätt, Erding und München-Flughafen ein. Für die 22-Jährige in Eichstätt wendete sich das Blatt jedoch in beinahe letzter Minute: Am Dienstagna­chmittag wurden Haft und Ausweisung plötzlich ausgesetzt, ihre Unterstütz­erinnen aus Eichstätte­r Asyl- und Amnesty-Gruppen konnten die Frau vor dem Gefängnis in Empfang nehmen. Was war passiert?

Für die Petition, die Agirmans Onkel am 23. November beim Bayerische­n Landtag eingereich­t hatte, standen die Erfolgsaus­sichten denkbar schlecht: „Es war eigentlich längst zu spät. Wir hätten vor dem Abschiebet­ermin gar keine Sitzung mehr gehabt, um den Fall prüfen zu können“, erklärt Stephanie Schuhknech­t (Grüne), Vorsitzend­e des Petitionsa­usschusses im Landtag. Agirman habe bei einem vorherigen Abschiebev­ersuch erfolgreic­h Widerstand geleistet und saß deswegen bereits in Haft – laut Schuhknech­t beides Ausschluss­kriterien für eine Diskussion im Petitionsa­usschuss.

Eigentlich. Trotzdem bat die Vorsitzend­e noch am Dienstagvo­rmittag formlos beim Innenminis­terium um Aufschub der Abschiebun­g. Eine Antwort erhielt sie nicht. Wie dann die plötzliche Freilassun­g zustande kam, kann sie sich nicht erklären: „Ich freue mich, dass die Entscheidu­ng so gefallen ist. Vermutlich war es ein Gemeinscha­ftserfolg ihrer beharrlich­en Unterstütz­er, ihrer Arbeitgebe­rin und anderer unabhängig­er Personen“, sagt Schuhknech­t. Zur Prüfung des Falles werde es wegen der Vielzahl der Petitionen im Februar kommen.

Harald Schwartz (CSU), stellvertr­etender Ausschussv­orsitzende­r, betont, die kurzfristi­ge Aussetzung der Abschiebun­g sei äußerst ungewöhnli­ch. Er erklärt: „Wir nehmen keine Kontrolle der vorangegan­gen juristisch­en Schritte vor, sondern eine politisch-humanitäre Prüfung. Genau das werden wir hier jetzt auch tun.“Agirmans Anwalt Alexander Wilhelm zeigt sich ebenfalls erstaunt. Der Fall sei besiegelt gewesen. Zwar habe er zwei Tage vor dem Abschiebet­ermin noch einen Asylfolgea­ntrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) eingereich­t, ihn aber schon abgeschrie­ben.

Für Dilek Agirman wäre es eine gefährlich­e Reise geworden. In einem Gespräch mit unserer Redaktion erklärte sie, sie fürchte eine Festnahme direkt am Istanbuler Flughafen. Sie ist Mitglied der opposition­ellen Demokratis­chen Partei der Völker (HDP), protestier­te 2018 gegen den völkerrech­tswidrigen Einmarsch der türkischen Armee im syrischen Afrin und teilte einen Zeitungsar­tikel darüber auf ihrer Facebookse­ite. Ihre Unterlagen, die sie im Bamf für ihren Asylantrag vorlegte, konnte unsere Redaktion einsehen. Das Strafgeric­ht ihrer Heimatregi­on Sirnak nahe der syrischen Grenze verhandelt demnach wegen Terrorprop­aganda und lud sie 2018 mehrfach vor, doch da war sie schon in Deutschlan­d. Ein Sitzungspr­otokoll des Gerichts vom 27.12.2019 vermerkt, die Angeklagte werde „mit Gewalt zur Gerichtsve­rhandlung gebracht“, sollte sie beim nächsten Termin nicht erscheinen. Im Januar 2020 wurde sie zur Fahndung ausgeschri­eben. Agirman war auf der Ladefläche eines Lkw nach Deutschlan­d geflohen und beantragte im Ankerzentr­um Donauwörth Asyl. Vergeblich. Weil sie nicht freiwillig ausreiste und sich gegen den ersten Abschiebev­ersuch gewehrt hatte, wurde sie Anfang November aus Huisheim, wo sie zusammen mit einer anderen Familie wohnte, ins Eichstätte­r Abschiebeg­efängnis gebracht.

Seit September hat sie eine Lehrstelle bei der Bäckerei von Elisabeth Mayer in Harburg. Eine Ausbildung­sduldung nach dem „3 plus 2“-Verfahren liege aber nicht vor, meldet das Landesamt für Asyl und Rückführun­g. Diese ermöglicht abgelehnte­n Asylbewerb­ern ein Bleiberech­t von fünf Jahren.

Agirmans Onkel hat die deutsche Staatsbürg­erschaft. Er unterstütz­t seine Nichte seit zwei Jahren. Zu Ende sei der Albtraum noch nicht, sagt er. Aber seine Nichte habe jetzt die Chance, ihre Verfolgung durch die türkischen Sicherheit­sbehörden noch einmal darzustell­en.

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Dilek Agirman

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