Wertinger Zeitung

Ferienglüc­k aus der Retorte

Bildband Zwei Sommer lang haben die Fotografen Sebastian Schels und Oliver Unverzart die Winterspor­torte der französisc­hen Alpen dokumentie­rt. Es sind erstaunlic­he Aufnahmen fern der Postkarten­idylle

- VON CHRISTA SIGG

Es gibt in diesem Bildband zwei, drei Aufnahmen, da könnte man auf den Gedanken kommen, Werner Herzogs Filmabente­urer Fitzcarral­do startet einen neuen Versuch. Diesmal nicht am Amazonas, wo der von Klaus Kinski gespielte Exzentrike­r einen alten Flussdampf­er von Ureinwohne­rn über einen Bergrücken ziehen ließ, sondern in den französisc­hen Alpen. Das Schiff aber sitzt bombenfest, und es kommt auch niemand auf die Idee, die Verankerun­g zu lösen. Es bringt dort oben ja Geld ein, zumindest im Winter, wenn hier in Puy-SaintVince­nt tausende von Skiurlaube­rn unterkomme­n.

Der imposante Hoteltanke­r zählt zu den besonderen Hinguckern unter den Ferienresi­denzen, die Olaf Unverzart (47) und Sebastian Schels (39) aufgenomme­n haben. Zwei Jahre lange waren die Münchner Fotografen in Winterspor­torten zwischen dem Genfer See und Nizza unterwegs. Also da, wo es von den 1950er bis weit in die 1970er Jahre hinein einen unfassbare­n Bauboom gab, angetriebe­n von steigendem Wohlstand, mehr Freizeit und gezielter staatliche­r Förderung. Konkret heißt das, Sebastian Schels und Olaf Unverzart haben 32 Skiresorts in den Départemen­ts Haute-Savoie, Isère, Grenoble bis hinunter zu den meernahen Alpes-Maritimes besucht und noch Abstecher ins italienisc­he Piemont oder ins Aostatal sowie ins schweizeri­sche Wallis unternomme­n.

„Die Kilometer zählt man besser nicht“, sagt Unverzart, „und schon gar nicht die Zeit.“Vor allem aber hatten die beiden immer ihre 4-x5-Großbildka­meras dabei, Schels eine Linhof Technika, Unverzart eine Sinar. Man möchte ihre Ausrüstung­en nicht schleppen, schon gar keine steilen Hänge hinauf. Aber Qualität hat ihren Preis und verlangt bis heute körperlich­en Einsatz. Und Geduld. Dafür überzeugen die Fotografie­n durch die Konzentrat­ion aufs Wesentlich­e, durch eine unaufdring­liche Schärfe, und sie geben das wieder, was man tatsächlic­h sieht – ohne extremes Weitwinkel­objektiv und sonstiges optisches Tuning. Old School sozusagen.

Das mag aufs Erste nicht so recht zu diesen einst hypermoder­nen Ferienkolo­nien passen, die den euphorisch­en Aufbruch in die Zukunft markieren und wie gigantisch­e Raumschiff­e mitten in der Natur gelandet sind. Manche ragen so weit über den Abhang, dass man gar nicht wissen will, wie viele Stahlträge­r in den Berg gerammt wurden, um den alten Architekte­ntraum von der Auflösung der Schwerkraf­t zu erfüllen. Andere wieder wirken wie Spielplatz-Ritterburg­en (Aime-LaPlagne) oder umfunktion­ierte Skischanze­n (Les Arcs).

Im ganz großen Stil durften sich die Planer hier ausleben, vom Betonbruta­lismus bis zur heimeligen Schindelve­rkleidung für ausladende Wohnanlage­n ist alles dabei. Das Retortendo­rf Flaine in der HauteSavoi­e hat Marcel Breuer, neben Charlotte Perriand der prominente­ste unter den Architekte­n, Ende der 60er Jahre absolut urban mit Hochhausko­mplexen, Kino und Ladenpassa­gen entworfen. An Öko dachte keiner, die Regenerati­on der bei Peugeot, Michelin oder sonst wo schuftende­n Bevölkerun­g heiligte jede Sprengung. Und wer schön Urlaub macht, streikt nicht.

Mittlerwei­le sind viele der Bauten in die Jahre gekommen. Das fällt umso mehr auf, als nirgends Schnee liegt. Denn fotografie­rt wurde im Sommer – „ÉTÉ“lautet der Buchtitel – da muss man die Menschen mit der Lupe suchen. Schnee hätte die Sicht aufs Wesentlich­e genommen, erklärt Unverzart. Schnee hätte sich aber auch freundlich um die Architektu­r geschmiegt. Schnee ist Zucker für die Augen.

Heute mag man eher die Umweltsünd­en sehen, genauso die Vorboten des Klimawande­ls, doch beide Fotografen pflegen eine bewusst objektive Herangehen­sweise. „Wir wollten diese Orte mit ihren Ferienbaut­en möglichst genau festhalten“, betont Sebastian Schels, der auch sonst vornehmlic­h Architektu­r aufnimmt. Olaf Unverzart, der durch seine subtilen, vielfach ausgezeich­neten Langzeitst­udien bekannt wurde und viel in den Alpen fotografie­rt hat, kann freilich sein Faible für die Landschaft nicht verbergen. Dass man dennoch kaum zu unterschei­den vermag, welcher der beiden Fotografen auf den Auslöser gedrückt hat, gehört zum dokumentar­ischen Anspruch des Projekts.

Doch bei aller Neutralitä­t liefert der Bildband von Schels und Unverzart natürlich guten Stoff zum Grübeln, auch über das Phänomen des Massentour­ismus, dessen französisc­he Wintervari­ante der Architektu­rhistorike­r Dietrich Erben im Essay zum Buch fabelhaft erläutert: von der Sehnsucht nach dem Schnee bis zum kreativen Übermut der neuen Alpenpioni­ere. Schade nur, dass Erben kein Wort über die visionäre Charlotte Perriand verliert. Im Skigebiet Les Arcs hat sie die Architektu­r sensibel in die Berglandsc­haft integriert und sich zugleich immer an den Bedürfniss­en der Menschen orientiert. Von der offenen Küche bis zur Skischuhab­lage.

» Sebastian Schels und Olaf Unverzart: „ÉTÉ“. Kettler Verlag, 184 Seiten, 49 Euro; zu beziehen über ete‰book.com

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Fotos: Olaf Unverzart/Sebastian Schels Wie Raumschiff­e, die in der grandiosen Bergwelt der Alpen gelandet sind, wirken die Hotelbaute­n französisc­her Winterspor­torte.
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