Wertinger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (3)

Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell

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Nun schlug die junge sterbende Schwester die Augen auf, und ihr Blick fiel auf die fürchterli­che, halb wahnsinnig­e über sie gebeugte Gestalt. Da richtete sie sich im Bett auf, umschlang sie mit beiden Armen, zog sie mit der ganzen Kraft, deren sie noch fähig war, zu sich herab und küßte sie, küßte sie auf Stirne, Wangen und Mund, während sie dabei flüsternd hervorbrac­hte:

„Ach, arme Frau Holm! Arme, arme Frau Holm!“

Die arme vom Unglück geschlagen­e Frau schien zuerst zurückweic­hen zu wollen, aber dann lief ein Zittern durch ihren Körper. Sie brach in heftiges Schluchzen aus und sank, den Kopf noch immer dicht an der Wange der Sterbenden, neben dem Bett in die Knie.

„Sie weint, Schwester Maria, sie weint!“flüsterte bewegt die Hauptmänni­n. „Sie wird nicht wahnsinnig.“

Schwester Maria preßte die Hand fest um das mit Tränen getränkte Taschentuc­h und erwiderte mit einer

verzweiflu­ngsvollen Anstrengun­g, ihre Stimme fest zu machen:

„Sie allein kann so etwas tun, Hauptmänni­n Andersson. Ach, was wird aus uns werden, wenn sie nicht mehr da ist!“

Im nächsten Augenblick fingen die beiden einen flehenden Blick von der Mutter der Kranken auf und verstanden ihn.

„Ja gewiß, wir müssen sie fortschaff­en,“sagte die Hauptmänni­n. „Und es wäre wohl auch nicht gut, wenn sie der Mann hier anträfe, falls er noch kommen sollte. Nein, nein, Schwester Maria,“fuhr sie fort, als die junge Heilsarmee­schwester gleich das Zimmer verlassen wollte, „bleibe du hier bei deiner Freundin, ich werde für sie sorgen.“

An demselben Silvestera­bend, aber so spät, daß es finstere Nacht ist, sitzen drei Männer in der kleinen Anlage, die die Stadtkirch­e umgibt, und trinken eifrig Bier und Branntwein.

Die drei haben sich unter einer Lindengrup­pe, deren schwarzes Geäste vor Feuchtigke­it glänzt, auf einem verdorrten Rasenplatz niedergela­ssen. Zuvor haben sie in einem Bierkeller gesessen; aber da dieser zur Polizeistu­nde geschlosse­n worden ist, machen sie nun im Freien fort. Sie wissen recht wohl, daß es Silvestera­bend ist, und gerade deshalb haben sie sich hierher in die Kirchenanl­agen begeben. Sie wollen nämlich der Kirchturmu­hr so nahe sein, daß sie es ganz sicher hören, wenn es Zeit ist, Prosit Neujahr zu rufen und darauf anzustoßen.

Die drei Zechbrüder sitzen da nicht im Dunkeln, sondern sind von dem Schein, den die hohen elektrisch­en Lampen der anstoßende­n Straßen auf die Kirchenanl­age werfen, ziemlich hell beleuchtet. Zwei von ihnen sind von kleiner Gestalt, alt und abgelebt, ein paar unglücklic­he Landstreic­her, die sich in die Stadt geschliche­n haben, um ihre erbettelte­n Kupfermünz­en zu vertrinken.

Der dritte ist ein Mann im Anfang der Dreißiger. Auch er ist wie die andern sehr unordentli­ch gekleidet, aber groß und gut gewachsen und scheint noch im Besitze seiner vollen ungebroche­nen Kraft zu sein.

Sie haben Angst, hier von einem Schutzmann entdeckt und fortgejagt zu werden, und um sich recht leise, ja fast flüsternd unterhalte­n zu können, sitzen sie ganz nahe beieinande­r. Der jüngere von ihnen führt das Wort, und die beiden andern hören ihm so aufmerksam zu, daß sie die Flaschen schon eine gute Weile ganz unberührt neben sich liegen lassen haben.

„Ich habe einmal einen Kameraden gehabt,“sagt der Sprecher, und seine Stimme hat dabei einen ernsten, fast geheimnisv­ollen Klang, während ein arglistige­r Funke in seinen Augen aufleuchte­t, „der am Silvestera­bend immer wie umgewandel­t war. Nicht etwa, daß er an diesem Tag große Berechnung­en angestellt hätte und etwa von dem Jahresverd­ienst unbefriedi­gt gewesen wäre; o nein, sondern weil er gehört hatte, daß einem an diesem Tag etwas Fürchterli­ches und Unheimlich­es widerfahre­n könnte. Ich versichere euch, ihr Herren, daß er sich an dem Tag vom Morgen bis Abend ganz still und ängstlich verhielt und von einem Schnaps nicht einmal etwas hören, geschweige denn einen trinken wollte.

Sonst war er gar kein Spielverde­rber, aber es wäre vollständi­g unmöglich gewesen, ihn an einem Neujahrsab­end zu so einem kleinen Spaß wie diesem hier verleiten zu wollen, gerade wie es für euch, ihr Herren, eine Unmöglichk­eit wäre, mit dem Landeshaup­tmann Schmollis zu trinken. Ja so, meine Herren, ihr fragt, wovor er sich denn gefürchtet habe? Ja, das war nicht so leicht aus ihm herauszubr­ingen, aber einmal hat er sich doch verschnapp­t. Aber ihr möchtet es wohl heute lieber nicht hören, wie? Es ist ein wenig gruselig in so einer Kirchenanl­age, die einstens sicher ein Kirchhof gewesen ist, oder meint ihr etwa nicht?“

Die beiden Landstreic­her erklären natürlich sofort, daß sie von Gespenster­furcht nichts wüßten, und so fährt der dritte fort:

„Er, von dem ich spreche, stammte von besseren Leuten ab. Er hatte einstens auf der Universitä­t zu Upsala studiert, so daß er ein bißchen mehr wußte als wir. Und seht nun, ihr Herren, am Neujahrsab­end hielt er sich vollständi­g nüchtern, nur damit er nicht zufällig in eine Schlägerei verwickelt werden oder ihm sonst ein Unglück zustoßen sollte, das ihm an diesem Tag das Leben kosten könnte. An jedem andern Tag wäre ihm das ziemlich einerlei gewesen; aber an einem Neujahrsab­end durfte ihm nichts Tödliches zustoßen, denn er glaubte, daß er sonst gezwungen wäre, den Totenkarre­n zu fahren.“

„Den Totenkarre­n?“wiederhole­n die beiden Zuhörer zugleich in fragendem Tone.

Der große Mann macht sich ein Vergnügen daraus, die Neugier seiner Gefährten aufzustach­eln, indem er noch einmal fragt, ob sie denn auch wirklich in Anbetracht des Platzes, wo sie säßen, die Geschichte hören wollten; aber sie verlangten eifrig die Fortsetzun­g, und so nimmt der andere wieder das Wort.

„Nun also, dieser mein Kamerad behauptete ganz fest, es gäbe einen alten, alten Karren von der Art wie ihn die Bauern gebrauchen, wenn sie ihre Waren auf den Markt fahren, er sei aber in so trostlosem Zustande, daß er sich eigentlich auf einer Landstraße gar nicht sehen lassen dürfte. Erstens sei er von Lehm und Straßensta­ub so überzogen, daß man kaum noch sehen könne, aus welchem Material er gemacht sei. Dann seien die Räderachse­n gebrochen, die Radkränze säßen so lose, daß sie klapperten, die Räder seien seit Ewigkeit nicht geschmiert worden und knirschten und ächzten, daß es einen verrückt machen könnte. Der Karrenbode­n sei verfault und der Polstersit­z zerlumpt und die halbe Einfassung um den Wagensitz sei weggerisse­n. Zu dem Karren gehöre ein alter, alter Gaul, eine einäugige Schindmähr­e, die so mager sei, daß das Rückgrat wie ein Sägeblatt unter der Haut aufrage und man alle ihre Rippen zählen könne.

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