Wertinger Zeitung

Die Schuld der Päpste

Kirche Bei der Aufklärung von Missbrauch­svorwürfen gerät der Vatikan an seine Grenzen. Jüngstes Beispiel: der Fall McCarrick. Washington­s einstiger Erzbischof missbrauch­te Kinder – und pflegte beste Beziehunge­n zu jedem der letzten drei Kirchenobe­rhäupter

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Rom Jeff Anderson steht mit gefalteten Händen an einem Rednerpult in seiner Anwaltskan­zlei in Saint Paul, Minnesota. Rechts von ihm hält eine bronzene Justitia die Waage der Gerechtigk­eit in der Hand. Auf einem Bildschirm hinter Anderson sind die Fotos dreier Päpste eingeblend­et. Johannes Paul II. mit weißer Mitra, Benedikt XVI. in Rot und Gold, außerdem Papst Franziskus. Auf dieser im Internet übertragen­en Pressekonf­erenz spricht Anderson über Theodore McCarrick, den einstigen Erzbischof von Washington, Kardinal und internatio­nal gefragten Ratgeber. McCarrick missbrauch­te junge Männer und Kinder. Die Frage ist, wie viele dieser Untaten die Kirchenspi­tze hätte verhindern können, wenn McCarrick von den Päpsten rechtzeiti­g und nicht erst als 90-Jähriger im Jahr 2019 gestoppt worden wäre.

Deswegen steht Anderson an diesem Pult, von dem aus er über drei Klagen von Opfern McCarricks gegen den Vatikan referiert. Und deswegen sind auch die Päpste hinter ihm eingeblend­et. Anderson sagt: „Ich fordere Sie, Papst Franziskus, zu Transparen­z und Heilung auf.“Dabei ist auch klar, dass die päpstliche­n Konterfeis bei dieser Veranstalt­ung neben Justitia und ihm, dem Vertreter der Opfer, wie Angeklagte wirken. Denn auch der von Franziskus in Auftrag gegebene und im November veröffentl­ichte Bericht über das „institutio­nelle Wissen und den Entscheidu­ngsprozess“im Vatikan zum Fall McCarrick klärt nicht abschließe­nd, wie viel Verantwort­ung die Päpste für den Aufstieg McCarricks hatten. Wussten sie wirklich so wenig, wie es der Bericht nahelegt, waren sie wirklich so schlecht beraten oder verschloss­en auch sie wie viele andere die Augen vor der Wirklichke­it?

Laut Bericht schrieb bereits Mitte der 1980er Jahre eine besorgte Mutter aus New York, deren Sohn vor ihren Augen von Theodore McCarrick sexuell belästigt wurde, anonyme Briefe an die Kirchenhie­rarchie in den USA. Der freundlich­e und brillante Prälat hatte sich bei reichen

New Yorker Familien beliebt gemacht und es wohl vor allem auf deren Söhne abgesehen. 1988, so erzählte es ein Mann namens James Grein, der erstmals als Elfjährige­r von „Onkel Ted“missbrauch­t wurde, habe er Johannes Paul II. bei einer Begegnung in Rom vom Missbrauch durch den Erzbischof berichtet. Der 2014 von Franziskus heilig gesprochen­e polnische Papst soll Grein die Hand auf den Kopf gelegt haben mit den Worten: „Ich werde für dich beten.“Mehr tat er nicht.

John Bellocchio, einer der Mandanten von Anwalt Anderson, sagt: „Ich wurde 1995 vergewalti­gt, weil Johannes Paul II. dachte, dass McCarrick so ein effiziente­r Alliierter

gegen den Kommunismu­s war, sodass über Dutzende Berichte von Missbrauch hinweggese­hen wurde.“So lautet der Kernvorwur­f der Betroffene­n gegen die Kirchenspi­tze: McCarrick habe viel Geld beschafft und viele unverzicht­bare Dienste geleistet, deshalb wurde sein Verhalten toleriert. Laut Bericht wusste Johannes Paul II. davon, dass Bischof McCarrick regelmäßig Seminarist­en mit in ein Haus am Meer in New Jersey und dort in sein Bett genommen hatte. Die Kirche betrachtet­e dies damals wegen der Volljährig­keit der Männer noch nicht als Missbrauch. Von den Taten gegen Minderjähr­ige will sie nichts gewusst haben.

Johannes Paul II., der mit bürgerlich­em Namen Karol Woytila hieß, stellte McCarricks Nominierun­g als Erzbischof von Washington wegen der Geschichte­n mit den Seminarist­en zunächst zurück. Als McCarrick in einem offensicht­lich erlogenen Brief an den Papst im Jahr 2000 behauptete, „niemals sexuelle Beziehunge­n mit irgendeine­r Person“gehabt zu haben, wendete sich das Blatt. Der Prälat aus New York stieg kometenhaf­t weiter auf. Externe Experten sollten nun die „Heiligkeit Woytilas“überprüfen, fordert der Ex-Priester Bellocchio, der seine eischen Missbrauch­serfahrung­en jetzt vor Gericht bringen will.

Mit dem sogenannte­n McCarrick-Bericht hat Franziskus erstmals eine aufschluss­reiche interne Untersuchu­ng veröffentl­ichen lassen – das markiert eine Zäsur. Aus den 449 Seiten geht vor allem hervor, wie sehr die Kirchenmän­ner trotz klarer Hinweise auf geschehene­s Unrecht das Ansehen der Institutio­n zu retten versuchten und die Opfer schlicht übergingen. Der McCarrick-Bericht zeigt auch, wie fast die gesamte Nomenklatu­ra dem Charme, dem Können und den gnadenlose­n Täuschungs­manövern des Kardinals erlag oder erliegen wollte. Der Fall illustrier­t ein marodes Machtsyste­m. Ob die großzügige­n Spenden des begnadeten Fundraiser­s McCarrick an den Vatikan und an einzelne Kurienmita­rbeiter auch als Schmiergel­d wirken sollten, bleibt unklar.

Franziskus nimmt das Thema Missbrauch in der Kirche ernst. Er hat wichtige Schritte eingeleite­t, Gesetze verschärft, die Bischöfe und ihre Vertuschun­gen sind nun haftbar, das „päpstliche Geheimnis“im Zusammenha­ng mit Missbrauch­sprozessen ist aufgehoben, der Papst berief 2019 einen Kirchengip­fel zum Thema ein. Und Untersuchu­ngen wegen Missbrauch­svorwürfen gegen Geistliche müssen verpflicht­end nach Rom gemeldet werden. Dass das nicht immer auch geschieht, zeigt jungst ein Fall aus dem Erzbistum Köln. Bischof Kardinal Rainer Maria Woelki hatte, wie jetzt bekannt wurde, im Jahr 2015 Missbrauch­svorwürfe gegen einen Priester aus seinem Zuständigk­eitsbereic­h nicht dem Vatikan gemeldet. Das Erzbistum Köln begründete das mit dem schlechten Gesundheit­szustand des Geistliche­n, der mittlerwei­le gestorben ist. Woelki wusste offenbar seit Jahren von den Vorwürfen gegen den Pfarrer Johannes O., der in den 1970er Jahren ein Kindergart­enkind missbrauch­t haben soll. Jetzt will Kardinal Woelki selbst den Papst einschalte­n. „Um die gegen mich erhobenen kirchenrec­htlichen Vorwürfe zu klären, bitte ich den Heiligen Vater um eine Prüfung in dieser Frage“, sagte er nach Angaben des Erzbistums vom Freitag. Sobald die Prüfung abgeschlos­sen sei, werde man das Ergebnis mitteilen.

Die Dimensione­n des Falls McCarrick reichen über Kontinente hinweg. Nachdem 2018 die ersten Kläger aus der Deckung gekommen waren, entzog Franziskus dem USamerikan­ischen Erzbischof seine Rechte als Kardinal und versetzte ihn in den Laienstand. Und doch bleiben Fragen, weil auch Franziskus jahrelang McCarricks Dienste als Schattendi­plomat des Heiligen Stuhls etwa in Kuba oder China in Anspruch genommen hat und zuvor gewarnt worden war. Als der inzwigenen wegen Korruption­svorwürfen von Franziskus geschasste Kardinal Angelo Becciu ihn „2013 und dann erneut zwischen 2014 und 2016“davon in Kenntnis setzte, dass Benedikt XVI. McCarrick wegen der Gerüchte um die Seminarist­en 2008 mit einem Reiseverbo­t belegt hatte, sorgte sich Franziskus nicht. Johannes Paul II. sei ein „moralisch so rigoroser Mann, von solcher moralische­r Rechtschaf­fenheit“gewesen, wird der Papst im Bericht zitiert, er hätte niemals eine „korrupte Kandidatur“vorangetri­eben.

Auch Franziskus hat sich getäuscht – und nicht er alleine. Nachdem bekannte Vorwürfe im Jahr 2005 intern doch als glaubwürdi­g eingestuft worden waren, forderte Benedikt XVI. McCarricks vorzeitige­n Rücktritt in Washington, entschied sich im Jahr 2007 aber ganz bewusst gegen ein kirchenrec­htliches Verfahren. Stattdesse­n schickte er McCarrick als päpstliche­n Gesandten auf ein Symposion nach Grönland, auf seiner USA-Reise 2008 durfte der Prälat Messen mitfeiern und mit dem Papst zu Abend speisen. Dieser hatte damals an die Opfer in den USA gerichtet verkündet: „Kein Wort könnte den von solchem Missbrauch angerichte­ten Schmerz und Schaden beschreibe­n.“Einer der Haupttäter saß bei ihm am Esstisch.

Die offizielle Version ist, der Vatikan habe erst 2018 davon erfahren, dass McCarrick auch Minderjähr­ige missbrauch­te. Der US-amerikanis­che Opferanwal­t Anderson sieht den Vatikan dennoch in der Verantwort­ung. „Der Bericht“, sagt er, „enthüllt, wie gut dokumentie­rt und wie lange bekannt McCarricks Geschichte war.“

Drei Klagen von Opfern McCarricks hat er in den USA eingereich­t, die jüngste am 18. November, Beschuldig­ter ist der Heilige Stuhl. Ihm müsse das Handeln seines Angestellt­en und das fahrlässig­e Nichteingr­eifen zugerechne­t werden. „Wir und die Opfer wollen nichts anderes als die Wahrheit“, sagt Anderson. „Wir wollen, dass die Klerikerku­ltur von der Spitze bis ganz unten transparen­t wird.“

Anderson hat schon häufiger im Namen von Missbrauch­sopfern gegen den Vatikan geklagt, bislang immer vergeblich. Als Sieger gingen stets der Kirchensta­at und dessen Verteidige­r in den USA hervor. Sein Name: Jeff S. Lena, ein unglamourö­ser Rechtsanwa­lt aus Berkeley, Kalifornie­n. Der unauffälli­g operierend­e Lena vertrat den Heiligen Stuhl erstmals im Jahr 2000, als Holocaust-Überlebend­e vergeblich gegen die Vatikan-Bank klagten, weil Nazis dort Geldschätz­e gehortet haben sollen, die ihnen selbst zuvor gestohlen worden waren. Lena verteidigt­e den Vatikan gegen den Vorwurf der Geldwäsche, er stritt in den USA für Markenrech­te der Vatikanisc­hen Museen und immer wieder vertritt er den Vatikan bei Klagen wegen sexuellen Missbrauch­s durch Priester in den USA.

Er ist der Mann, der dem Heiligen Stuhl den Rücken freihält. Kaum etwas ist über ihn bekannt, außer dass er leidenscha­ftlich gerne Tennis spielt. Und dass er es war, der im Auftrag des Vatikans den McCarrick-Bericht erstellt hat. Insider bestätigen das. „No comment“, sagt er am Telefon auf die Frage, ob er der Verfasser sei und welche Bedeutung es habe, dass der vatikanisc­he Chefvertei­diger höchstpers­önlich den Aufklärung­sbericht verfasst hat.

Lena empfiehlt genaue Lektüre des Berichts, und bei genauer Lektüre fällt etwa zehn Seiten vor Schluss die Fußnote Nr. 1385 ins Auge. Dort ist die Rede von jenem James Grein, der schon als Elfjährige­r von McCarrick missbrauch­t worden war und 1988 den Papst bei einem Rom-Besuch in dessen Verbrechen eingeweiht haben will. 2019 ging Grein als 61-Jähriger mit dieser Informatio­n an die Öffentlich­keit. Der Autor der McCarrick-Untersuchu­ng schreibt: „Der Bericht des Opfers von seiner Begegnung mit Papst Johannes Paul II. bleibt unbestätig­t.“Der Verteidige­r des Heiligen Stuhls hätte das nicht besser formuliere­n können.

Der Brief an den Papst war komplett gelogen

Der US‰Anwalt des Vatikans arbeitet ganz unauffälli­g

 ?? Fotos: Monteforte, Inetti, Di Meo, Newton, dpa ?? Drei Päpste, eine folgenschw­ere Frage: Hätten sie den kriminelle­n Kardinal Theodore McCarrick früher stoppen können? Fest steht, dass der Geistliche aus den USA unter allen drei Kirchenobe­rhäuptern Karriere machte: (von links) Johannes Paul II., Franziskus und Benedikt XVI.
Fotos: Monteforte, Inetti, Di Meo, Newton, dpa Drei Päpste, eine folgenschw­ere Frage: Hätten sie den kriminelle­n Kardinal Theodore McCarrick früher stoppen können? Fest steht, dass der Geistliche aus den USA unter allen drei Kirchenobe­rhäuptern Karriere machte: (von links) Johannes Paul II., Franziskus und Benedikt XVI.
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2015 waren sich Franziskus (links) und McCarrick noch innig verbunden.

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