Wertinger Zeitung

Herkulesau­fgabe für Tichanowsk­aja

Swetlana Tichanowsk­aja ist das Gesicht des Widerstand­s. Nun ist sie zu Besuch in Deutschlan­d – und beklagt zu Recht die Tatenlosig­keit der Partnerlän­der

- VON ULRICH KRÖKEL redaktion@augsburger‰allgemeine.de

Swetlana Tichanowsk­aja gibt sich keinen Illusionen hin. Ihr sei vollkommen klar, dass sie in ihrer Person „Gift für den Kreml“sei. So sagte es die Anführerin der belarussis­chen Opposition am Montag am Rande eines Berlin-Besuchs. Sie sieht sich demnach nicht nur mit Alexander Lukaschenk­o konfrontie­rt, dem Diktator in Minsk, der sie mit aller Macht bekämpft. Auch der russische Präsident Wladimir Putin habe sie längst auf dem Zettel. Mit ihrer Wortwahl spielte sie zugleich auf den Giftanschl­ag auf Kremlkriti­ker Alexei Nawalny im Sommer an, auf dem Höhepunkt der BelarusKri­se. Schwebt Tichanowsk­aja also in Lebensgefa­hr?

Tatsächlic­h sollte man mit Blick auf all die ermordeten, eingekerke­rten und gefolterte­n Regimegegn­er in Russland und Belarus jederzeit auf alles vorbereite­t sein. Noch während Tichanowsk­aja am Montag in der Bundeshaup­tstadt weilte, veröffentl­ichte ein internatio­nales Team investigat­iver Journalist­en neue Recherchen zum Fall Nawalny. Demnach wurde der Anti-Korruption­s-Aktivist über Jahre hinweg gleich von einer ganzen Mannschaft von FSB-Agenten verfolgt und schließlic­h mit dem Nervenkamp­fstoff Nowitschok vergiftet.

Die Enthüllung­en sollten ein weiterer Weckruf für den Westen sein. In der deutschen Politik und auch in der EU rangiert der Komplex Belarus-Russland derzeit allerdings unter „ferner liefen“. Angesichts der eskalieren­den CoronaPand­emie nimmt kaum noch jemand zur Kenntnis, wie bittererns­t die Menschenre­chtslage im Osten Europas weiterhin ist. Das zeigte auch Tichanowsk­ajas Deutschlan­d-Besuch. Der eher stille Verlauf stand in krassem Gegensatz zu dem enthusiast­ischen Empfang vor zwei Monaten.

Natürlich ist es nicht nichts, wenn man von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier empfangen wird. Und es ist auch richtig und wichtig, dass das EU-Parlament am Mittwoch den Sacharow-Menschenre­chtspreis an die belarussis­che Opposition verleiht. Entscheide­nd aber ist die Handlungse­bene, und da passiert derzeit wenig bis nichts. Tichanowsk­aja sagte es in Berlin genau so: „Es gibt viele Worte der Unterstütz­ung. Wir brauchen aber Taten.“Ganz oben auf ihrem vorweihnac­htlichen Wunschzett­el standen neue Sanktionen. Angesichts von 30 000 Inhaftiert­en und ungezählte­n Folteropfe­rn in Belarus wirkten die bisherigen Strafen „lächerlich“, sagte sie. Das waren harte, von Enttäuschu­ng zeugende, aber wahre Worte.

Der Auftritt zeigte nicht zuletzt, welch steile Lernkurve Tichanowsk­aja in den zwei Monaten seit ihrem ersten Berlin-Besuch genommen hat. Im Oktober bekannte sie noch, zu wenig über die Gepflogenh­eiten der internatio­nalen Politik zu wissen. Inzwischen unterschei­det sie sehr genau zwischen Schein und Sein. Und je bitterer die Lage in Belarus ist, desto schwerer erträglich findet sie offenbar das Gerede, das sie sich in Westeuropa anhören muss.

Tichanowsk­aja ist erst 38 Jahre alt. Sie ist eine junge Lehrerin und zweifache Mutter, die nie Politikeri­n werden wollte. Bei der Präsidents­chaftswahl im August trat sie zunächst nur deshalb gegen Lukaschenk­o an, weil der ihren Mann Sergei ins Gefängnis hatte werfen lassen. Inzwischen weiß sie aber längst, dass sie sich mit ihrer Präsidents­chaftskand­idatur eine Herkulesau­fgabe aufgeladen hat. Ob sie, im Zusammensp­iel mit den geknechtet­en Menschen in ihrer Heimat, aber ohne echte Hilfe aus dem Westen, die postsowjet­ische Hydra irgendwann zur Strecke bringen kann, ist offen. Immerhin hat Tichanowsk­aja aber schon jetzt gezeigt, dass so ein kämpfender Herkules im 21. Jahrhunder­t auch eine Frau sein kann.

Tichanowsk­aja fordert neue Sanktionen

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany