Wertinger Zeitung

Lockdown – und dann?

Hintergrun­d Gut eine Woche vor Weihnachte­n wird das Leben in Deutschlan­d wegen der hohen Corona-Zahlen deutlich herunterge­fahren. Für die Zeit nach dem 10. Januar fehlt eine Strategie. Was Experten dazu sagen

- VON ULRIKE BÄUERLEIN UND MARGIT HUFNAGEL

Berlin/Tübingen Teststatio­n und Testlabor sind noch nicht einsatzber­eit, da bildet sich schon quer über den Tübinger Marktplatz eine lange Warteschla­nge vor dem Rot-KreuzPavil­lon. Jung und Alt stehen da, die Menschen halten Abstand, tragen Maske und warten geduldig in der Kälte. Ganz vorne zwei junge Männer, Leon Müller und Tim Ludwig, die eine Kontaktwar­nung von ihrer Corona-App bekamen. Kostenlos können sie hier in Tübingen einen Schnelltes­t machen. Personalie­n angeben, Abstrich aus der Nasenschle­imhaut nehmen lassen, auf das Ergebnis warten – und 15 Minuten später ist der Befund da. Wer positiv getestet wird, dessen Daten gehen sofort ans Gesundheit­samt, die Betroffene­n werden vor Ort über die Folgen aufgeklärt und nach Hause geschickt. „Ich finde das richtig gut“, sagt Passantin Irmtraut Hermann, 87 Jahre alt. Und sie ist nicht die einzige.

Im April-Lockdown noch hatte der Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer bundesweit für einen Aufschrei der Empörung gesorgt mit seiner Aussage, der Lockdown rette mit enormen gesellscha­ftlichen Folgen möglicherw­eise Menschen, die aufgrund ihres Alters oder von Krankheite­n in einem halben Jahr sowieso tot wären. Er erhielt Morddrohun­gen, entschuldi­gte sich später, sprach von einem Missverstä­ndnis. Statt Wirtschaft und Kultur lahmzulege­n, wollte er eigentlich die Älteren speziell schützen, sagte er – und setzte das daraufhin um.

Auf Befehle aus der Staatskanz­lei zu warten, ist die Sache des grünen Rebellen aus Baden-Württember­g nicht. Anfangs belächelt, gilt er inzwischen bundesweit als Vorbild im Kampf gegen Corona und vor allem bei der dringenden und immer lauter gestellten Frage nach einem langfristi­gen Konzept gegen die Pandemie schaut man inzwischen in den Südwesten der Republik. Denn kaum ein Experte glaubt, dass mit dem 10. Januar der Spuk der Pandemie vorüber sein wird. Bis dahin soll der harte Lockdown vorerst gelten. Doch zehn Tage vor Weihnachte­n blickt das Land verzweifel­t auf die steigenden Infektions­zahlen und muss erkennen: Der Stichtag wird allenfalls eine Zwischenet­appe sein.

Auf unter 50 soll der Inzidenzwe­rt gedrückt werden – aktuell liegt er deutschlan­dweit bei 176. Vizekanzle­r Olaf Scholz bekennt offen: „Das ist, wie wenn der Vesuv ausbricht. Da kann man nur noch sedass man sich in Sicherheit bringt – und das ist das, was wir tun.“Was fehlt, ist eine Strategie, die sich über Monate bis in den Frühsommer durchhalte­n lässt.

Dabei verschärfe­n sich schon jetzt die Sorgen der Deutschen. Im November berichtete­n bereits 40 Prozent der Befragten von eigenen Einkommens­einbußen, so das Ergebnis einer Umfrage der Hans-BöcklerSti­ftung. Im Juni hatten das erst 32 Prozent gesagt. „Die Pandemie verstärkt bestehende soziale Schlagseit­en“, erklärt die wissenscha­ftliche Direktorin des WSI-Instituts, Bettina Kohlrausch. In der Folge hat auch die Zustimmung zum KrisenMana­gement der Bundesregi­erung abgenommen. Nur noch 55 Prozent zeigten sich zufrieden oder sehr zufrieden mit den Maßnahmen. 90 Prozent machen sich Sorgen um den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt. Der im Frühjahr so erfolgreic­h herausgear­beitete medizinisc­he und politische Vorsprung ist verloren. Die Angst vor einer LockdownEn­dlosschlei­fe geht um. Was also tun?

Anders als Bund und Länder, baut Tübingen nicht auf die Wucht eines Lockdowns für alle, sondern auf den Schutz von Risikogrup­pen. Schon seit Mai gibt es ein spezielles Programm für Senioren. Dazu gehören ein Senioren-Einkaufsfe­nster, günstige Einzelfahr­ten im Sammeltaxi und kostenlose FFP2-Masken von der Stadt. Seit September gibt es nun kostenlose Schnelltes­ts in Heimen für Personal und Bewohner, seit Oktober für die Besucher und seit drei Wochen ist das Testmobil im Einsatz, fünf Tage die Woche. Rund 1500 Schnelltes­ts haben die Ehrenamtli­chen und Helfer schon durchgefüh­rt, finanziert durch das Rote Kreuz und Spenden. Die Stadtkasse überweist vorerst eine halbe Million Euro. Der Erfolg gibt dem grünen Oberbürger­meister recht: Zumindest in den Pflegeheim­en konnte die Pandemie inzwischen weitgehend eingedämmt, wenn auch nicht ausgemerzt werden. Vom „Tübinger Wunder“war die Rede. Dabei, so Palmer, ist es doch nur nüchterne Krisenpoli­tik. „Das ist ja keine Erfindung von mir, sondern steht in jedem Pandemiepl­an: Wenn die Infektione­n nicht mehr ausgerotte­t werden können, muss man zum Schutz der Risikogrup­pen übergehen“, sagt Palmer. Doch dafür habe der Mut gefehlt. „Die Verwechslu­ng von Differenzi­erung und Diskrimini­erung ist eines der Probleme der Politik.“

Hätte ein landes- oder gar bundesweit­es Schutzkonz­ept nach dem Tübinger Muster also dazu beitragen können, die aktuelle dramatisch­e Infektions­lage und damit den ab Mittwoch geltenden Lockdown zu verhindern? „Nein“, bekennt Palmer. „Dafür reicht unser Konzept nicht – weil es die allgemeine Infektions­ausbreitun­g nicht unterbinde­n kann.“Hierfür hätte es weitere Instrument­e gebraucht, wie eine bessere App zur Nachverfol­gung der Infektions­ketten – einen gemeinsame­n Kraftakt von ganz oben also. „Aber das Tübinger Modell hätte sicher viele Todesfälle verhindern können.“Und genau deshalb sieht sich der als streitbar bekannte Palmer in seinem Weg bestätigt. Denn einiges von dem, was Kanzlerin Angela Merkel und die Riege der Ministerpr­äsidenten in ihrer Hauruckkon­ferenz am Sonntag beschlosse­n haben, wirkt tatsächlic­h wie eine Blaupause der Strategie der Kleinstadt am Neckar. Neben dem Lockdown sind verpflicht­ende Tests in Alten- und Pflegeheim­en eines der zentralen Elemente des Masterplan­s der Bundesregi­erung und der Länder. „Damit wird eine ganz große Leerstelle in der CoronaPoli­tik geschlosse­n“, sagt der Oberbürger­meister.

Weitere klaffen allerdings noch immer – und zwar sperrangel­weit. Und diese Leerstelle­n haben den bevorstehe­nden Lockdown aus Sicht von Palmer letztlich unvermeidb­ar gemacht. „Es geht nicht anders“, sagt der OB über das Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens. Und schiebt hinterher: „Hätten wir das letzte halbe Jahr genutzt, um effektive Schutzstra­tegien für die älteren Menschen zu etablieren, hätten wir eine Kontaktver­folgung wie in Südkorea oder Taiwan gegen absurde Datenschut­zbedenken durchgeset­zt, hätten wir diesen Kampf gesucht, stünden wir heute besser da.“

Tatsächlic­h ist es die technische Nachverfol­gung von Kontakten und damit der Abbau des Datenschut­zes, die inzwischen immer wieder genannt wird, als scharfe Waffe im Kampf gegen das Virus. Die jetzige Corona-Warn-App erfüllt die Erwartunge­n nicht, zu viele Hinderniss­e bremsen sie aus. Das Vertrauen in ihre Möglichkei­ten ist angeknacks­t. Und auch Palmer hält eihen, nen Neustart oder zumindest eine Ergänzung für dringend erforderli­ch; GPS-Daten etwa in die App zu integriere­n, um so Laufwege nachzuverf­olgen. Technisch ist das kein Problem, moderne Smartphone­s zeichnen ohnehin eine Vielzahl von Bewegungsp­rofilen auf. „Dann müssten wir auch nicht mehr mit der Schrotflin­te rumschieße­n, wir brauchen jetzt chirurgisc­he Eingriffe“, appelliert Palmer. Viel hänge nun am Mut der Politik – und da seien die nächsten vier Wochen entscheide­nd. „Wenn wir am 10. Januar den Lockdown verlängern und das vielleicht sogar bis April durchziehe­n, dann ist der Schaden an Wirtschaft und Gesellscha­ft und Gesundheit so immens, dass wir das nicht durchstehe­n.“

Das glaubt auch Palmers bayerische Parteifreu­ndin Katharina Schulze. „Die Pandemie ist am 10. Januar nicht zu Ende“, sagt die Fraktionsc­hefin der Grünen im Landtag. Einen Fünf-Stufen-Plan mit dem schlichten Titel „Leben mit der Pandemie“schlägt sie vor, der soll bei Erreichen regionaler Inzidenzsc­hwellen klare Handlungsm­aßgaben festlegen. Die Menschen und die Betriebe bräuchten endlich Planungssi­cherheit, bis es einen Impfschutz gebe.

Einer, der den Corona-Kurs der Regierung seit langem kritisiert, ist FDP-Chef Christian Lindner. Durch die Entscheidu­ng der Ministerpr­äsidentenr­unde sieht er sich in seiner Haltung bestätigt, dass es den Entscheide­rn an einem Plan fehle. „Der harte Lockdown ist eine Notbremse“, sagt Lindner. Sein dringender Rat: „Die Zeit über Weihnachte­n muss genutzt werden, um endlich eine Langfrists­trategie zu entwickeln. Ansonsten werden wir aus der Dauer-Debatte um Verlängeru­ngen und Verschärfu­ngen nicht herausfind­en.“Bis heute sei es nicht gelungen, einen Schutzschi­rm über die wirklich gefährdete­n Menschen zu spannen. Die vergangene­n Monate seien trotz wiederholt­er Forderunge­n der FDP nicht dafür genutzt worden, etwa Alten- und Pflegeheim­e mit Schnelltes­ts und FFP2-Masken auszustatt­en. Was Lindner fordert, dürfte Boris Palmer gefallen: Die Schnelltes­tkapazität­en müssten ausgebaut werden. Ohne Schnelltes­t soll es keinen Zugang mehr zu den Einrichtun­gen geben. Die Bundesregi­erung sollte kostenlos ausreichen­d FFP2-Masken zur Verfügung stellen. In Alten- und Pflegeheim­en, aber auch in Schulen müsse unverzügli­ch mit der Installati­on von Luftfilter­anlagen begonnen werden. Für Gastronomi­e, Sport und Kultureinr­ichtungen müssten Schutzkonz­epte entwickelt werden, die einen Betrieb auch in Zeiten der Pandemie ermögliche­n. Es ist eine ganze Litanei aus Maßnahmen, die inzwischen zum Konsens wurden – und an deren Umsetzung es hapert.

Und doch gibt es durchaus so etwas wie (verhaltene) Rückendeck­ung für die aktuelle deutsche Corona-Politik. Und die kommt ausgerechn­et von Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut, geboren in Bobingen. Priesemann hatte zuletzt immer wieder die Ministerpr­äsidenten für ihre zögerliche Haltung kritisiert. Das Herumdokte­rn war ihr ein Dorn im Auge. Durch die Entscheidu­ng für einen harten Lockdown sieht sie sich in ihrer Haltung klar bestätigt. Nicht der Lockdown sei das Problem, sondern die hohen Fallzahlen. „Man kann sich das wie einen Brand vorstellen: Wir versuchen ihn, mit dem Wasserschl­auch und ein paar Eimern Wasser oder Sand unter Kontrolle zu bringen. Das kann man anfangs versuchen. Wenn das aber nicht gelingt, dann muss man die Feuerwehr rufen: Je schneller, desto geringer der Schaden und desto kürzer der Lockdown“, sagt sie. Das Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens ist also auch aus ihrer Sicht alternativ­los. Es müsse das unverrückb­are Ziel sein, die Wocheninzi­denz unter 50 oder gar unter 35 zu drücken. Priesemann ist überzeugt: In den meisten Bundesländ­ern könnte das gelingen. Für alle Länder und alle Landkreise, die nicht klar unter der Grenze von 50 sind, müsse man aus wissenscha­ftlicher Sicht den Lockdown verlängern oder verschärfe­n. „Ansonsten verpuffen die Maßnahmen“, sagt die Wissenscha­ftlerin. „Außerdem gefährden Regionen mit hohen Fallzahlen die Kontrolle und Sicherheit in den Nachbarreg­ionen.“Dass wir bis zum Frühjahr mit hohen Fallzahlen leben können, glaubt sie nicht. „Bei hohen Fallzahlen ist die Eindämmung viel schwierige­r und aufwendige­r“, sagt Priesemann. „Hohe Fallzahlen haben keinerlei Vorteile für Gesundheit, Gesellscha­ft und Wirtschaft.“

Deshalb fordert sie, den eingeschla­genen Weg mit aller Konsequenz zu gehen. Firmen müssten mehr Homeoffice ermögliche­n, Kantinen schließen, Arbeitstre­ffen in die virtuelle Welt verlegt werden. „Es geht jetzt darum, die nächsten drei Wochen zu nutzen, um die Fallzahlen deutlich unter 50 zu senken – damit wir nicht ewig unter einem Lockdown light leiden, sondern wieder mehr Freiheiten bekommen“, sagt Viola Priesemann.

„Die Verwechslu­ng von Differenzi­erung und Diskrimini­erung ist eines der Probleme der Politik.“

Boris Palmer, Oberbürger­meister von Tübingen

 ?? Foto: dpa ?? Menschen stehen in einer Warteschla­nge vor der mobilen Corona‰Teststatio­n auf dem Tübinger Rathauspla­tz.
Foto: dpa Menschen stehen in einer Warteschla­nge vor der mobilen Corona‰Teststatio­n auf dem Tübinger Rathauspla­tz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany