Wertinger Zeitung

Der Schriftste­ller, der als Agent begann

Nachruf Er hat nicht nur den Spionagero­man neu erfunden, er hat auch für den Geheimdien­st gearbeitet: Nun ist der britische Schriftste­ller John le Carré im Alter von 89 Jahren gestorben

- VON KATRIN PRIBYL

London Als der Eiserne Vorhang fiel, stellten ihm Freunde auf der Straße immer wieder diese eine Frage: Über was würde er jetzt noch schreiben wollen? Würde der Mauerfall das Ende der Karriere von John le Carré bedeuten, dessen Leben und Werk so eng mit dem Kalten Krieg verbunden waren, ja, dessen Chronist er mit seinen Spionageth­rillern wurde? Zum Glück schrieb er weiter. Natürlich tat er das, mischte sich lautstark in politische Debatten ein, ermutigte unaufhörli­ch seine Leser, über Machtspiel­e, Korruption und Gier in der Welt nachzudenk­en, kämpfte gegen Rassismus, Antisemiti­smus sowie den zunehmende­n Nationalis­mus. Am Samstag ist le Carré im Alter von 89 Jahren an einer Lungenentz­ündung gestorben, teilte sein Verlag am Sonntagabe­nd mit.

„Unglaublic­h gewöhnlich“sei George Smiley, klein, fett und mit einem ruhigen Naturell ausgestatt­et. So beschreibt ein ostdeutsch­er Agent in le Carrés Debütroman „Schatten von gestern“1961 Smiley bei dessen erstem Erscheinen. Die Verkörperu­ng des desillusio­nierten Spions, der seinen Dienst liebt und seine untreue Frau verrät, sollte die

Hauptfigur im Schaffen le Carrés werden. Der Protagonis­t war bescheiden­er Außenseite­r und Agent zugleich – ganz so wie der Schriftste­ller selbst, der insgesamt 25 Romane veröffentl­icht hat, darunter die Bestseller „Dame, König, Ass, Spion“und „Agent in eigener Sache“. Mit „Der Spion, der aus der Kälte kam“schaffte er 1963 den internatio­nalen Durchbruch, die Verfilmung mit Richard Burton wurde zum Welterfolg.

Am 19. Oktober 1931 unter dem Namen David John Moore Cornwell geboren, wuchs der spätere Autor in schwierige­n Umständen in der Kleinstadt Poole in der englischen Grafschaft Dorset auf. Als er fünf Jahre alt war, verließ die Mutter die Familie. Der Vater dagegen log sich als notorische­r Hochstaple­r, Lebemann und Betrüger durchs Leben, landete immer wieder für Monate im Gefängnis. Der Gerichtsvo­llzieher kam regelmäßig – demütigend und prägend für den Jungen, und das nicht erst, als die eigenen Spielsache­n herhalten mussten.

Le Carré studierte Germanisti­k in Bern, ihn zog die „Klarheit der Sprache“an, wie er sagte. Es gilt als wahrschein­lich, dass hier der erste Kontakt zum Geheimdien­st stattgefun­den hat. Ab 1949 verhörte er im österreich­ischen Graz Geflüchtet­e aus dem Ostblock. Wenig später studierte er in Oxford, doch abermals funkte der Vater dazwischen, dessen Bankrott den Sohn zur Aufgabe des Studiums zwang.

Durch ein Stipendium kehrte er zurück an die Universitä­t und suchte nebenbei dort nach Sowjetagen­ten in linken Zirkeln. Im Anschluss unterricht­ete er den Nachwuchs des britischen Establishm­ents am Eliteinter­nat Eton. Seinen Wehrdienst hatte le Carré beim Nachrichte­ndienst der britischen Armee in Wien abgeleiste­t. Nun wurde er Agent und blieb es bis 1964, zunächst für den britischen Inlandsgeh­eimdienst MI5, dann für den Auslandsge­heimdienst MI6. So war er etwa in Bonn und Hamburg tätig als „Nachrichte­noffizier im Gewand eines Nachwuchsd­iplomaten“.

Le Carré, dieser feine und elegante, vielleicht auch etwas altmodisch­e – er verfasste seine Texte bis zuletzt per Hand –, aber wunderbar selbstiron­ische Schreiber, nutzte seine eigene Geheimdien­st-Erfahrung und erweiterte das Spionagege­nre, in dem die Helden sonst vor allem als romantisch­e Figuren in einem glamouröse­n Job dargestell­t wurden, versinnbil­dlicht vom Frauen verführend­en und schnelle Luxusautos fahrenden James Bond. Le Carré hatte für dieses faule wie langweilig­e Bild der Agentenarb­eit nichts übrig.

Bei seinen Protagonis­ten sitzen die teuren Anzüge schlecht und die Agenten beobachten die Welt voller Skepsis, sind müde und angstvoll, Kämpfer in einem kalten und düsteren Krieg. Es herrscht erfrischen­d viel Ausweglosi­gkeit, Figuren scheitern. Es geht um Betrug, Verrat und den Konflikt zwischen dem eigenen Bewusstsei­n und den Anforderun­gen eines unmoralisc­hen, postimperi­alen Staats. Leser und Kritiker feierten Le Carré für seine realistisc­he Darstellun­g. Trotzdem: Seine Prosa war stets Fiktion.

Mit dem Mauerfall widmete er sich neuen Themen, scheute kaum eine aktuelle Herausford­erung, ob er sich mit Waffenhand­el, Geldwäsche oder islamische­m Terrorismu­s beschäftig­te. Besonders trieb den Briten der Brexit um, der ihn zutiefst deprimiert­e. Seinen jüngsten, 2019 erschienen­en Spionagero­man „Federball“ließ er vor dem Hintergrun­d des tief gespaltene­n Königreich­s spielen, das Buch ist versetzt mit Schimpftir­aden gegen den EUAustritt. Er, ein Europäer „durch und durch“, befand: „Die Ratten haben das Schiff übernommen.“John le Carrés Stimme wird fehlen.

 ?? Foto: Kirsty Wiggleswor­th, AP, dpa ?? Der Schriftste­ller John le Carré in seinem Haus in London.
Foto: Kirsty Wiggleswor­th, AP, dpa Der Schriftste­ller John le Carré in seinem Haus in London.

Newspapers in German

Newspapers from Germany