Weiter viele Fragen im Fall Amri
Thomas de Maizière sagt nun dazu aus
Berlin Um den früheren Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist es still geworden, seit er im März 2018 aus dem Amt geschieden ist. Jetzt holt den CDU-Abgeordneten eine der schwärzesten Stunden seiner Amtszeit ein. Im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz muss de Maizière erklären, warum die Behörden, deren oberster Dienstherr er war, den Anschlag nicht verhindert haben. Und wie er einen Monat nach dem Blutbad auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche zu der Aussage kam, außer dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sei keine Bundesbehörde mit der Sache befasst gewesen. Seine Befragung war zum Redaktionsschluss noch nicht beendet.
Die Mitglieder des Ausschusses, der in Sitzungswochen seit Jahren Zeugen befragt, haben herausgefunden, dass sich sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt (BKA) bereits vor dem Anschlag mit dem späteren Attentäter Anis Amri befasst haben. Vor allem das BKA schätzte die Gefährlichkeit des Tunesiers, der in Berlin Drogen verkaufte, Kontakte zu arabischen Clan-Mitgliedern unterhielt und in einer radikalen Salafisten-Moschee ein und aus ging, wohl falsch ein.
Amri, ein abgelehnter Asylbewerber aus Tunesien, der mit mehreren gefälschten Identitäten in Deutschland unterwegs war, hat am 19. Dezember 2016 in Berlin einen Lastwagenfahrer erschossen. Mit dem Lastwagen tötete er auf dem Weihnachtsmarkt elf Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Anschließend stieg er praktisch unverletzt aus dem Fahrzeug aus. Er floh nach Italien, wo er am 23. Dezember 2016 bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde. Doch der Ausschuss hat mit seiner akribischen Arbeit auch noch andere Schwachstellen in den Sicherheitsbehörden entdeckt, von denen einige in der Zwischenzeit behoben worden sind.
Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat als Zeuge im Ausschuss am Donnerstagabend Defizite bei der Untersuchung des Tatorts eingeräumt. Die Fahndung nach Amri war nach dem Anschlag relativ spät angelaufen, weil die Fahrerkabine des Lastwagens erst am Nachmittag des Folgetages gründlich durchsucht worden war. Dort fand sich ein Ausweis des Tunesiers. „Rückblickend wäre es besser gewesen“, schneller zu durchsuchen, sagte Geisel im Bundestag.
Aus Sicht einiger Abgeordneter hat der Fall Amri gezeigt, dass in den Verfassungsschutzämtern und Staatsschutz-Abteilungen gerade in kleineren Bundesländern oft nicht die nötige Expertise vorhanden ist, um das Risiko, das von einzelnen Islamisten ausgeht, kompetent zu beurteilen – und Maßnahmen zu ergreifen, um Gefährder hinter Gitter zu bringen, ausreichend zu observieren oder abzuschieben.
Bei einem wie Amri, der sich in mehreren Bundesländern aufgehalten hatte, wäre es besser gewesen, das BKA und das Bundesamt für Verfassungsschutz hätten entschieden, „die Verantwortung an sich zu ziehen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, Mahmut Özdemir. Allerdings hat die Befragung von Zeugen aus diesen Behörden auch gezeigt, dass die Beamten dort 2016 unter erheblichem Arbeitsdruck standen – so wie auch die Berliner Polizei, die Amri nach seinem Umzug in die Hauptstadt trotz einer Warnung aus Nordrhein-Westfalen nicht observiert hat.
Auch wenn sich die Öffentlichkeit kaum mehr für die Arbeit des Untersuchungsausschusses interessiert, von Hinterbliebenen, Überlebenden und Sicherheitsbehörden wird sie genau verfolgt.