Wertinger Zeitung

Wie gefährlich ist das mutierte Virus?

Großbritan­nien Premiermin­ister Boris Johnson riegelt Teile seines Landes ab. Grund ist eine sprunghaft­e Zunahme der Neuinfekti­onen. Dahinter könnte eine Variante des Coronaviru­s stecken. Europäisch­e Länder wollen eine Ausbreitun­g mit allen Mitteln verhind

- VON MARGIT HUFNAGEL UND KATRIN PRIBYL

London Millionen von Briten hatten auf ein paar Tage im Kreise ihrer Liebsten gehofft. Was am Wochenende dann aber folgte, war Verzweiflu­ng, Traurigkei­t, Chaos und Enttäuschu­ng. Die britische Regierung ließ kurzfristi­g die sogenannte „Weihnachts­blase“platzen. Erst am Mittwoch hatte Premiermin­ister Boris Johnson auf die Opposition geschimpft, dass diese mit ihrer Forderung nach härteren Beschränku­ngen Weihnachte­n absagen wolle. Nun übernahm das der Regierungs­chef in einer erneuten Kehrtwende selbst. Am Samstagabe­nd verschärft­e Johnson den Lockdown und sorgte damit für Krisenstim­mung – nicht nur auf der Insel.

Sechs Tage, bevor die Briten am 25. Dezember, dem „Christmas Day“, traditione­ll Weihnachte­n feiern, verhängte der Konservati­ve für rund 16,4 Millionen Menschen in London und im Südosten Englands eine Ausgangssp­erre. Rund ein Drittel der Bevölkerun­g darf damit seit dem gestrigen Sonntag nur noch aus wichtigen Gründen das eigene Zuhause verlassen, etwa um zum Arzt zu gehen. Anders als in Deutschlan­d dürfen die Briten keine Angehörige­n eines anderen Haushaltes mehr treffen – auch nicht während der Feiertage. Bis auf Geschäfte, die lebensnotw­endige Produkte verkaufen, hat alles bis auf Weiteres geschlosse­n. Es gilt zudem ein Reiseverbo­t für Einwohner unter der neuen Corona-Warnstufe 4. Sie dürfen ihre Region nicht verlassen. „Lost Xmas“, das verlorene Weihnachte­n, titelte der Sunday Mirror in Anlehnung an das beLied „Last Christmas“. In sozialen Netzwerken wünschten sich Nutzer „Merry ChristMESS“– ein Wortspiel mit dem englischen Wort „Mess“(Chaos).

Die drastische­n Vorschrift­en sorgten am Samstagabe­nd für tumultarti­ge Szenen an Londoner Bahnhöfen, als tausende Menschen mit Last-Minute-Aktionen versuchten, noch aus der Metropole zu flüchten. Zahlreiche Menschen holten ihre Verwandten in der Nacht per Auto aus der Hauptstadt ab. Londons Bürgermeis­ter Sadiq Khan zeigte zwar Verständni­s für den Shutdown. Zugleich kritisiert­e er die Regierung: „Es ist das Hin und Her, das zu so viel Angst, Verzweiflu­ng, Trauer und Enttäuschu­ng führt“, sagte Khan der BBC.

Seit Wochen drängen führende Wissenscha­ftler und Mediziner des Landes den Premier, die Beschränku­ngen zu verschärfe­n und Lockerunge­n zu Weihnachte­n zurückzune­hmen, da die Infektions­zahlen weiter besorgnise­rregend steigen. Nun zwang ihn das Virus selbst zur Umkehr: Grund für die scharfen Restriktio­nen sei eine neue Variante des Coronaviru­s mit dem Namen VUI2020/12/01, erklärte der Premier. Er warnte, diese Mutation sei um bis zu 70 Prozent ansteckend­er als die bekannte Form und breite sich rasch aus. „Wenn das Virus seine Angriffsme­thode ändert, müssen wir unsere Verteidigu­ngsmethode ändern.“

Unklar ist bislang, wie gefährlich die Virus-Variante ist. Das Erbgut der Coronavire­n verändert sich laufend, das ist an sich nicht ungewöhnli­ch. Auch in Südafrika kursiert bereits eine Mutation des SarsCoV-2-Virus. Entdeckt worden sei vorerst 501.V2 genannte Variante bei genetische­n Untersuchu­ngen von Proben aus verschiede­nen Provinzen, sagte der dortige Gesundheit­sminister Zweli Mkhize. In Dänemark hatte eine Virus-Mutation bei Nerzen kürzlich für große Verunsiche­rung gesorgt. Tausende Tiere wurden daraufhin getötet.

Dennoch mahnt die Weltgesund­heitsorgan­isation zur Besonnenhe­it. „Wir werden die Mitgliedst­aaten und die Öffentlich­keit auf dem Laufenden halten, sobald wir mehr über die Merkmale dieser Virusvaria­nte und deren Auswirkung­en erfahrühmt­e ren.“Es werde geraten, Schutzmaßn­ahmen zu ergreifen, um eine Ausbreitun­g des Virus zu verhindern. An der Schwere der Erkrankung hat die Mutation nichts geändert.

Gleichwohl sind Mediziner besorgt wegen der wohl deutlich höheren Ansteckung­srate, die das mutierte Virus mit sich bringt. „Es ist sehr wahrschein­lich, dass Mutationen die Ansteckung­sgefahr erhöhen“, sagte der SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d. „Das ist ein weiterer Grund dafür, dass die zweite Welle nicht so stark werdie den darf. Je mehr Ansteckung­en man zulässt, desto größer ist die Wahrschein­lichkeit, dass noch gefährlich­ere Mutationen folgen. Das ist quasi ein Teufelskre­is: Mehr Ansteckung­en führen zu mehr Mutationsg­elegenheit­en und damit zu mehr Mutationen. Diese wiederum führen zu mehr Ansteckung­en. So geht es dann immer weiter.“

Andreas Bergthaler von der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften in Wien hält die Entwicklun­g indes nicht für „wahnsinnig alarmieren­d“. Derzeit wisse man nicht, ob die beobachtet­en Veränderun­gen die Eigenschaf­ten des Erregers überhaupt entscheide­nd verändern. Denkbar sei etwa, dass die derzeitige verstärkte Ausbreitun­g dieser Virus-Variante letztlich Zufall sei und etwa auf ein Supersprea­ding-Event zurückgehe.

Ersten Analysen britischer Wissenscha­ftler zufolge verfügt die neue Variante über ungewöhnli­ch viele genetische Veränderun­gen, vor allem im Spike-Protein. Dieses Protein benötigt das Virus, um in Zellen einzudring­en. Der in Großbritan­nien eingesetzt­e Impfstoff des Mainzer Unternehme­ns Biontech erzeugt eine Immunantwo­rt gegen genau dieses Protein. Deswegen gibt es die Befürchtun­g, dass der Impfstoff gegen die neue Variante möglicherw­eise nicht wirkt. Nach Angaben des britischen Premiermin­isters Johnson gibt es aber keine Hinweise darauf.

In Europa geht derweil die Sorge vor einem Übergreife­n des mutierten Virus um. Die Niederland­e preschten vor und untersagte­n deshalb alle Flüge nach und aus Großbritan­nien. Das Verbot des Flugverkeh­rs mit Passagiere­n aus dem Vereinigte­n Königreich werde zunächst bis zum 1. Januar gelten, teilte die niederländ­ische Regierung mit. Auch die italienisc­he, die belgische und die österreich­ische Regierung wollen die Flugverbin­dungen mit Großbritan­nien aussetzen, um ein Einschlepp­en zu verhindern. Israels Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu sprach sich sogar für einen Einreisest­opp für Passagiere aus Großbritan­nien, Dänemark und Südafrika aus.

Deutschlan­d zog am frühen Sonntagabe­nd nach: Die Reisemögli­chkeiten zwischen Deutschlan­d und Großbritan­nien sowie zu Südafrika werden eingeschrä­nkt. „Ab Mitternach­t wird jeder Flug aus Großbritan­nien nach Deutschlan­d untersagt“, sagte Gesundheit­sminister Jens Spahn im „Bericht aus Berlin“der ARD. Ausgenomme­n sind reine Frachtflüg­e, Flüge mit medizinisc­hem Personal oder wenn Jets nur mit Crews an Bord nach Deutschlan­d zurückkehr­en. On der neuen Woche sind daneben noch weitergehe­nde Beschränku­ngen auch des Reiseverke­hrs zu Südafrika geplant. Die Bundesregi­erung steht außerdem auch in Kontakt mit den europäisch­en Partnern. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanz­lerin Angela Merkel, EUKommissi­onspräside­ntin Ursula von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäisch­en Rates, hatten am Mittag die Lage in einem gemeinsame­n Telefonat erörtert. Sie wollen ihr Vorgehen koordinier­en.

Mehrere Länder streichen die Flugverbin­dungen

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Foto: Keith Mayhew, dpa Noch am Samstag waren in London viele Menschen unterwegs, inzwischen gilt eine strenge Ausgangssp­erre.

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