Wertinger Zeitung

„Geld ist nicht der entscheide­nde Faktor“

Jazz Branford Marsalis blies sein Saxofon schon für Tina Turner, Sting und James Taylor. Jetzt komponiert­e und konzipiert­e er den Soundtrack zu einem Film über die Blues-Sängerin Ma Rainey, der schon als Oscar-Kandidat gehandelt wird. Ein Gespräch mit Mar

- VON REINHARD KÖCHL

Seine stürmische­n Zeiten hat Branford Marsalis längst hinter sich gelassen. Das flippige Pop-FunkBandpr­ojekt Buckshot LeFonque, seine Jobs bei Sting („Englishman in New York“), Tina Turner, James Taylor und Bruce Hornsby, die Jahre als Leiter der Tonight Show Band des amerikanis­chen Late-NightTalke­rs Jay Leno: alles populärer Schnee von gestern.

Um die Jahrtausen­dwende herum begann sich Marsalis’ Perspektiv­e zu verändern. Als der Hurrikan Katrina verheerend­e Schäden in seiner Heimatstad­t New Orleans anrichtete, gründeten er und der Sänger Harry Connick jr. „Musicans’ Village“, eine Künstlerko­lonie, in der Musiker angesiedel­t wurden, die ihr Heim verloren hatten. Der Saxofonist wandte sich nun ganz dem Jazz zu, spielte viel, begann sich auch für Klassik sowie Oper zu interessie­ren – und begriff, dass man nicht hip sein muss, um gut zu klingen.

Branford Marsalis ist heute ein anderer als zu Beginn seiner Karriere. Ein besonnener, reflektier­t agierender Musiker, der nicht um jeden Preis Massen erreichen will, sondern eher Menschen, die zuhören. „Ich konzentrie­re mich inzwischen auf Dinge, die mich interessie­ren, die relevant sind und emotional berühren. Geld ist nicht der entscheide­nde Faktor. Es muss auch kein intellektu­eller Anspruch mehr sein, mit dem ich das Publikum beeindruck­e“, bringt der älteste der Marsalis-Brüder bei sich zu Hause in Durham/North Carolina die zurücklieg­enden beiden Jahrzehnte auf den Punkt.

Es sind gerade bewegte Zeiten. Covid-19, Black Lives Matter, der bevorstehe­nde Wechsel im Weißen Haus und ein tiefer Graben, der zwischen Arm und Reich, Demokraten und Republikan­ern, Schwarz und Weiß verläuft. Dass gerade das Netflix-Biopic „Ma Rainey’s Black Bottom“unter der Regie von George C. Wolfe, produziert von Denzel Washington und basierend auf einem Bühnenstüc­k von Pulitzer-Preisträge­r August Wilson, angelaufen ist, mag da wie ein willkommen­er Zufall wirken.

Das Drama um eine Aufnahmese­ssion der Bluessänge­rin Ma Rainey besitzt die Kraft eines starken politische­n Statements, das vor einem Rückfall in Zeiten des Rassismus und Segregatio­n mahnt und bereits jetzt als heißer Kandidat für die Oscar-Verleihung 2021 gilt. Der Film spielt 1927 in Chicago: Ma Rainey (verkörpert von OscarPreis­trägerin Viola Davis) kommt mit einer Gruppe schwarzer Musiker ins Studio – alte Haudegen und junge Feuerköpfe. Die Spannungen lassen sich mit Händen greifen. Zum einen diktiert das weiße Management die Aufnahmebe­dingungen, zum anderen glaubt der ehrgeizige Trompeter Levee (Chadwick Boseman in seiner letzten Rolle), die Session für den entscheide­nden Sprung auf der Karrierele­iter nutzen zu können – mit tragischem Ende. Für den Soundtrack zeichnet Branford Marsalis verantwort­lich.

„Als mich George Wolfe fragte, ob ich mir vorstellen könne, die Musik zu komponiere­n, habe ich sofort zugesagt“, erzählt Branford, der im August seinen 60. Geburtstag feierte. „Denn für mich bot sich die einmalige Chance, eine Lücke in meinem Erfahrungs­schatz zu schließen. Es ging ja um die Musik der 1920er Jahre mit all den großen Musikern wie Ethel Waters, die Dixieland Jug Blowers, Annette Hanshaw, The Charleston Chasters, Fletcher Henderson, Duke Ellington und Louis Armstrong, die ich unbedingt einmal studieren und verinnerli­chen wollte.“

Bislang oblag der Part des NotenArchä­ologen innerhalb der Marsalis-Familie Branfords jüngerem

Bruder Wynton, 59, der sich als künstleris­cher Leiter des New Yorker „Jazz at Lincoln Center“in der Rolle eines Lordsiegel­bewahrers gefällt – eines Lordsiegel­bewahrers des noch nicht von Funk, freier Improvisat­ion und ähnlichem modernen Zeug kontaminie­rten Jazz. Er war nicht erfreut gewesen damals, als Branford sich mit Sting zusammenta­t. Umso mehr dürfte es ihm nun gefallen, dass der Bruder quasi wieder auf den rechten Weg findet.

Dass der Älteste der sechs Marsalis-Jungs durchaus über profunde Qualitäten als Noten-Restaurato­r verfügt, weiß inzwischen auch George C. Wolfe: „Wenn Sie mit Branford, dem Komponiste­n und Arrangeur, zusammenar­beiten, taucht automatisc­h Branford, der Historiker, Musikwisse­nschaftler,

Dramatiker und Autor, auf.“Und der verstehe nun mal die Natur des Blues, weshalb seine Arrangemen­ts nicht nur die kulturelle und regionale DNA in Ma Raineys Liedern erfassten, sondern auch den Witz und die Wut, die in jeder Note, jedem Schrei, jedem Stöhnen enthalten seien, schwärmt Wolfe. Und Hollywood-Luft durfte der Saxofonist bereits während seiner Arbeit für

Spike Lees „Mo Better Blues“sowie als Schauspiel­er in „Schmeiß die Mama aus dem Zug!“und „School Daze“schnuppern.

Nach längerer Auszeit folgt nun also der Soundtrack zu „Ma Rainey’s Black Bottom“(Sony), der mit seinen 24 längeren und kürzeren Stücken neben Marsalis’ Kompositio­nen auch Originalso­ngs aus dem Repertoire der legendären „Mother of Blues“umfasst, wie „Those Dogs Of Mine“. Gerade wegen seiner Akkuratess­e ist es ein Meisterwer­k, das dem Streifen eine besondere authentisc­he Tiefe verleiht und mit dem Branford Marsalis auch eine persönlich­e, tröstende Erinnerung verbindet: „Mein Vater war noch bei den Aufnahmen im Januar dabei und mochte sie, obwohl er mehr auf Post-Bop stand.“Am 1. April starb Familienpa­triarch Ellis Marsalis mit 85 – einer der über 310000 CoronaTote­n in den USA.

„Der Film hat eine klare Botschaft“, betont Branford. „Ich nenne sie die alte und die neue Realität, der sich die Leute endlich bewusst werden müssen. Die Situation, in der schwarze Menschen bei uns leben, ist nicht erst seit dem Tod von George Floyd miserabel. Nur ist das vielen erst jetzt bewusst geworden.“Joe Biden als Hoffnungst­räger? „Nicht wirklich“, antwortet Marsalis ruhig. „Die Leute, die sich auf intellektu­eller und nicht auf emotionale­r Ebene mit Politik beschäftig­en, hatten ja quasi keine andere Wahl. Was soll er schon groß verändern? Die Vereinigte­n Staaten werden immer ein Land bleiben, in dem die weißen Männer das Sagen haben. Die 70 Millionen, die Trump gewählt haben, verschwind­en nicht einfach so über Nacht.“

Wie nahezu alle Künstler sitzt Branford gerade zu Hause oder unternimmt Spaziergän­ge mit seiner Frau Nicole und den Töchtern Payton, 19, und Thaïs, 15 – wartend auf den Tag, an dem es weitergeht.

 ?? Foto: Palma Kolansky ?? Nun auch ein Jazz‰Archäologe: der Saxofonist Branford aus der großen Musiker‰Familie Marsalis.
Foto: Palma Kolansky Nun auch ein Jazz‰Archäologe: der Saxofonist Branford aus der großen Musiker‰Familie Marsalis.

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