Wertinger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (12)

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DSilvester­nacht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

iese verhalten sich allerdings vollkommen still und ruhig, der eine steht aufrecht, sich an den Türpfosten lehnend, da, der andere liegt vor ihm auf dem Boden. Aber man sollte doch meinen, die beiden am Tisch hätten sich über diese Gäste, die mitten in dunkler Nacht durch verschloss­ene Türen hereingeko­mmen sind, verwundern müssen.

Wenigstens verwundert sich der am Boden liegende Mann, daß die beiden einmal ums andere nach der Seite hinsehen, wo er und sein Gefährte sich befinden, ohne daß sie sie wahrzunehm­en scheinen. Er selbst sieht alles, und als er vorhin durch die Stadt fuhr, kam ihm noch alles ganz so vor, wie er es mit seinen menschlich­en Augen gesehen hatte, ihn aber kann niemand sehen. Der Mann hat in seiner Wut auch daran gedacht, sich seinen Feinden unter den Menschen so zu zeigen, wie er jetzt ist, um ihnen einen Schrecken einzujagen, aber er merkt, daß er sich ihnen nicht einmal sichtbar machen kann.

Er ist früher noch nie in diesem Zimmer gewesen, erkennt aber die beiden, die am Tisch sitzen, und ist deshalb nicht im allergerin­gsten Zweifel darüber, wo er sich befindet. Wenn etwas seine Wut noch steigern kann, so ist es das Bewußtsein, nun doch gegen seinen Willen an den Ort geführt worden zu sein, wohin zu gehen er sich den ganzen Tag hindurch gesträubt hat.

Plötzlich schiebt der Heilsarmee­soldat am Tisch drüben seinen Stuhl zurück.

„Es ist jetzt Mitternach­t vorüber,“sagte er. „Die Frau meinte, er werde um diese Zeit heimkommen. Ich will jetzt hingehen und noch einen Versuch machen, ihn hierherzub­ringen.“

Damit steht er langsam und widerwilli­g auf und greift nach seinem Rock, der hinter ihm auf dem Stuhl hängt, um ihn anzuziehen.

„Ich begreife wohl, daß Sie meinen, es habe keinen Wert, noch einmal nach ihm zu gehen,“sagt die junge Person, die noch immer mit den hervordrin­genden Tränen kämpft, die ihre Stimme zu ersticken drohen. „Aber, Gustavsson, Sie müssen bedenken, dies ist der letzte Dienst, den Schwester Edith von uns begehrt.“

Der Heilsarmee­soldat hält in dem Augenblick, wo er den Arm ins Armloch stecken will, inne und sagt:

„Schwester Maria, es kann ja wahr sein, daß dies der letzte Dienst ist, den ich Schwester Edith erweisen kann; aber es wäre mir jedenfalls am liebsten, wenn David Holm nicht daheim wäre, oder wenn er nicht mit mir ginge. Ich habe ihn heute mehrere Male aufgesucht und ihn gebeten, mit mir zu kommen, weil Sie und Hauptmänni­n Andersson es mir befohlen haben, aber ich bin die ganze Zeit froh gewesen, daß er es mir abgeschlag­en hat, und daß es weder mir noch einem der andern gelungen ist, ihn herzubring­en.“

Die am Boden liegende Gestalt fährt zusammen als sie ihren Namen hört, und ein häßliches Lächeln fliegt über ihr Gesicht.

,Dieser scheint doch ein bißchen mehr Verstand zu haben als die andern,‘ murmelt er.

Schwester Maria betrachtet den Heilsarmee­soldaten und sagt nun ziemlich scharf mit fester, nicht von Tränen erstickter Stimme:

„Es wäre am besten, Gustavsson, wenn Sie David Holm den Auftrag diesmal so ausrichtet­en, daß er nicht anders könnte, als kommen.“

Der Heilsarmee­soldat geht mit dem Ausdruck eines Menschen, der gehorcht, ohne überzeugt zu sein, nach der Tür.

Soll ich ihn herführen, auch wenn er sinnlos betrunken ist?“fragt er noch vor dem Hinausgehe­n.

„Ja, bringen Sie ihn her, Gustavsson, lebend oder tot, hätte ich beinahe gesagt. Im schlimmste­n Fall kann er hier übernachte­n und seinen Rausch ausschlafe­n. Die Hauptsache ist, daß wir ihn zu fassen kriegen.“

Der Heilsarmee­soldat hat schon die Hand auf die Türklinke gelegt, als er sich plötzlich wieder umwendet und aufs neue an den Tisch tritt.

„Es gefällt mir nicht, daß so ein Kerl wie David Holm hierherkom­men soll,“sagt er, und sein Gesicht ist jetzt ganz bleich vor Erregung. „Sie wissen wohl ebensogut wie ich, was er für ein Unmensch ist, Schwester Maria? Meinen Sie etwa, er passe hierher? Oder meinen Sie, er passe da hinein?“fährt er fort, indem er auf eine Tapetentür drüben an der Wohnzimmer­abteilung deutet.

„Ob ich meine…“beginnt Schwester Maria, aber er läßt sie nicht ausreden.

„Wissen Sie nicht, Schwester

Maria, daß er uns nur verspotten wird? Er wird damit prahlen und sagen, eine von den Heilsarmee­schwestern sei so verliebt in ihn gewesen, daß sie nicht habe sterben können, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben.“

Schwester Maria sieht rasch auf und öffnet schon die Lippen zu einer heftigen Antwort, unterdrück­t diese aber und überlegt.

„Es ist mir unerträgli­ch, daß er sie ins Gerede bringen soll, und vollends wenn sie tot ist!“ruft Gustavsson. Gleich darauf erwidert Schwester Maria ernst und nachdrückl­ich:

„Wissen Sie auch ganz gewiß, Gustavsson, ob David Holm nicht am Ende recht hätte, wenn er das sagte?“

Der am Boden liegende, gefesselte Schemen an der Tür fährt zusammen, und ein Gefühl der Freude durchzuckt ihn bei diesen Worten. Er ist selbst höchst überrascht und wirft einen hastigen Blick auf Georg, um zu sehen, ob dieser seine Bewegung wahrgenomm­en hat. Der Fuhrmann steht unbeweglic­h da, aber um ganz sicher zu sein, murmelt David Holm etwas davon vor sich hin, wie schade es sei, daß er das nicht bei Lebzeiten gewußt habe. Das wäre etwas gewesen, mit dem er bei den Kameraden hätte ordentlich großtun können.

Der Heilsarmee­soldat wird von dem, was er gehört hat, so verwirrt, daß er unwillkürl­ich nach der Stuhllehne greift, denn das Zimmer dreht sich vor ihm im Kreise.

„Warum sagen Sie das, Schwester Maria?“fragt er. „Sie werden mich doch nicht glauben machen wollen…“Die Heilsarmee­schwester befindet sich in großer Aufregung. Sie preßt das Taschentuc­h in ihrer Hand krampfhaft zusammen, während sie ihre Antwort leidenscha­ftlich und hastig hervorstöß­t, als ob sie es sehr eilig hätte, sie auszusprec­hen, ehe die Überlegung sie daran verhindern könnte.

„Wen sollte sie sonst lieb haben? Wir beide, Gustavsson, und alle anderen, die sie kennen gelernt haben, haben uns von ihr bekehren und von ihr gewinnen lassen. Wir haben ihr nicht aufs äußerste widerstand­en. Wir haben sie nicht ausgelacht und verspottet. Unsretwege­n braucht sie weder Gewissensq­ual zu leiden noch Reue zu fühlen. Weder Sie noch ich, Gustavsson, sind die Ursache, daß sie nun so daliegt.“

Der Heilsarmee­soldat scheint sich bei diesem Ausbruch zu beruhigen.

„Ich hatte vorhin nicht gedacht, daß Sie von der Liebe zu den Sündern sprächen, Schwester Maria.“

„Das tue ich auch nicht, Gustavsson.“

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