Fernsehen als Schlafmittel
Wer an der Jahreswende die vielen Feiertage heil überstanden hat, wird dem deutschen Fernsehen besonders dankbar sein. Mit einschläfernden Programmen haben ARD- und Privatsender so manchen Familienzwist verhindert und gefährliche Wutbürger lahmgelegt.
In vielen Haushalten übernimmt das TV-Programm bei Feiertagskrisen die Aufgaben des Psychologen. Aggressiv gestimmte Familienmitglieder werden mit langweiligen Dokumentationen in schnarchende Harmlosigkeit versetzt, zur Randale bereite Ehemänner verwandeln sich in sanfte Weihnachtsoder Neujahrslämmer, wenn sie vor dem Bildschirm zwei Stunden lang mit einem uralten Hollywood-Film bestrahlt worden sind.
Glänzend erfüllten Ende 2020 auch neuere TV-Produktionen ihre friedenstiftende Mission. Wer sich vom „Louis-van-Beethoven“-Wirrwarr behandeln ließ oder seine Seele der „Fack-Ju-Göthe 3“-Version aussetzte, war nicht mehr fähig, die Feiertagskrach-Statistik in die Höhe zu treiben. Endlich haben wir die Chance, die US-Amerikaner auch auf diesem Gebiet zu überholen: Laut einer Umfrage der US-Sleep Foundation schauen 60 Prozent der Amerikaner fern, wenn sie einschlafen wollen. Das ist viel bequemer, als das veraltete Schlafmittel anzuwenden, das die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach 1894 in ihrer Erzählung „Das Schädliche“empfahl: „Lies nur, lies alles, es wird dir als Schlafmittel dienen.“