Wertinger Zeitung

Dünnes Eis

Am zugefroren­en Spitzingse­e knirscht es gewaltig. Dort gibt es: jede Menge Tagestouri­sten, fragliche politische Maßnahmen, eine Polizei, die auch mal beide Augen zudrückt – und einen verzweifel­ten Landrat. Wie lange geht das noch gut?

- VON FABIAN HUBER

Schliersee Es hat schon etwas von Kanada. Der Nadelwald. Das Bergpanora­ma. Das Knarzen auf dem zugefroren­en See. Aus Stiefelpaa­ren hat eine Gruppe Jungs zweidimens­ionale Eishockeyt­ore improvisie­rt. Der Puck läuft, vier gegen vier, „3:2 für uns“, ruft ein Jugendlich­er im Trikot der Traditions­mannschaft Chicago Blackhawks. Nummer 88, Patrick Kane, nach Ministerpr­äsident Justin Trudeau wohl der zweitwicht­igste Kanadier.

Spitzingse­e, 1084 Meter Höhe, der vergangene Dreikönigs­tag. Tief Lisa berieselt Bayern seit Tagen mit weißen Flocken, auch jetzt wieder. In der Autokolonn­e geht es durch dunklen Schneemats­ch nach oben, an diesen zauberhaft­en Ort, an dem die Menschen offenbar einen Haufen Spaß und wenig böse Viren erwarten. Zu Hunderten wuseln schwarze Punkte über die Ebene, wie eine Ameisenkol­onie. Mit gut 20 Zentimeter­n ist das Eis dick genug, um die Ausflügler zu tragen.

Aber gemessen an dem Ansturm ist das hier ganz schön dünnes Eis. Und die Frage ist, wie viel der Landkreis Miesbach davon noch ertragen kann.

45 Autominute­n nordwestli­ch in Holzkirche­n sitzt Olaf von Löwis an diesem Morgen in seinem Wohnzimmer und scrollt durch den Chatverlau­f mit Markus Söder. Es riecht nach Weihrauch. Eine Tradition der Ehefrau an Dreikönig, um den Mief, vielleicht auch den Stress der Feiertage zu vertreiben.

Die grünen Nachrichte­nblasen des Landrats füllen den gesamten Handy-Bildschirm. Dazwischen die

Ein-Satz-Antworten des bayerische­n Ministerpr­äsidenten. Am 28. Dezember, gegen halb drei nachmittag­s, schreibt von Löwis: Lieber Markus, ich nerve dich nur sehr ungern per SMS. Aber bei uns ufert der Tagestouri­smus aus. Es brennt wirklich (Spitzingse­e, Schliersee u.a.). Was kann man tun, um die Ausflugswi­lligen zu sensibilis­ieren und zu informiere­n? (…) Der Appell „bleibt zu Hause“muss durch Regeln bei der Ausgangsbe­schränkung untermauer­t werden. Die Polizei ist am Limit. Danke und herzliche Grüße. Dein Olaf.

Von Löwis ist kein Einzelkämp­fer. Deutschlan­ds Winterorte werden von Ausflugsto­uristen gerade regelrecht überrannt. Meldungen vom vergangene­n Wochenende: Im Sauerland riegelt die Polizei Zufahrtsst­raßen nach Winterberg ab. Nach Oberhof in Thüringen sollen nur noch Leute kommen, „die hier wohnen oder arbeiten oder ein berechtigt­es Interesse haben“, wie es der Bürgermeis­ter ankündigt. Stauchaos auf der B4 im Harz. In Willingen, hessischer Taunus, bereiten sie ein Betretungs­verbot für Skipisten und Rodelhänge vor. Auch in Gunzesried im Allgäu wurde bereits eine große Zubringers­traße gesperrt.

Ab Montag gelten in Deutschlan­d nochmals verstärkte Ausgangs- und Kontaktbes­chränkunge­n. Die Verantwort­lichen in den Skigebiete­n befürchten an diesem Wochenende den Sturm vor der Ruhe. BadenWürtt­embergs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n kündigt an: „Die Menschen müssen wissen, dass wir sie wieder nach Hause schicken, wenn es im Schwarzwal­d oder auf der Schwäbisch­en Alb zu voll wird.“

Auf von Löwis’ Hilferuf antwortete Söder mit einem Zweizeiler: Ob man denn nicht Betretungs­verbote erlassen könne? Der Landrat lässt das prüfen. Am vergangene­n Dienstag drosselt die Polizei zum ersten Mal die Zufahrt zu den heillos überfüllte­n Parkplätze­n des Spitzingse­es.

Es ist ja kein neues Phänomen. Seit jeher zieht die Schönheit der Region die Menschen an, als liege ein überdimens­ionaler Magnet auf dem Grund des Sees. „Tourismus ist bei uns Leitökonom­ie“, sagt von Löwis. Aber während eines Lockdowns? Bei all den Appellen der Politiker, zu Hause zu bleiben? Wo die Ärzte im nahen Kreiskrank­enhaus Agatharied alles gebrauchen können, aber doch bitte keine unnötigen Knochenbrü­che von Touristen?

Die Bilanz vom Dreikönigs­tag: 22 Unfallpati­enten in der Klinik, etwa die Hälfte von Ausflügler­n, die allermeist­en Schlittenf­ahrer. „Ganz offensicht­lich waren viel mehr Rodler unterwegs als in den vergangene­n Jahren“, sagt Michael Kelbel, Geschäftsf­ührer des Krankenhau­ses. Aufgrund der besonderen Hygienevor­kehrungen vor Ort sei das mindestens „herausford­ernd“.

Gleichzeit­ig sind aktuell alle 14 Beatmungsb­etten auf der Intensivst­ation belegt. Was das für Notfälle auf der Skipiste bedeuten würde, bei denen jede Minute zählt, kann man sich leicht ausmalen. „Ich habe mich hauptsächl­ich wegen der Sorge vor Überlastun­g im Krankenhau­s an den Ministerpr­äsidenten gewendet“, sagt Landrat von Löwis.

Kontakte und Mobilität einschränk­en – das ist das Credo, mit dem die deutschen Landesfürs­ten und Bundeskanz­lerin Angela Merkel Corona eindämmen wollen, vor allem im Hinblick auf den Tagestouri­smus. Eine der neuen Bestimmung­en lautet zunächst: Liegt die Inzidenz im eigenen Landkreis über 200, dürfen sich die Bewohner mit Ausnahme von Job, Einkaufen oder Familienbe­suchen ab Montag nicht mehr als 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernen.

Das hätte zu grotesken Rechenspie­len geführt: Ein Bad Reichenhal­ler aus dem Berchtesga­dener Land, wo der Schwellenw­ert aktuell bei über 250 liegt, hätte dann nicht mehr an den Königssee fahren dürfen, aber der Regensburg­er oder Freisinger eben schon.

Am Freitag verkündet Söder im Landtag, die Regelung nachbesser­n zu wollen. Landkreise mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 200 sollen nun die Möglichkei­t erhalten, den Besuch von Tagestouri­sten in ihrem Gebiet zu untersagen, um vor Ort Gleichbeha­ndlung herstellen zu können. Von Löwis sagt dazu: „Ich bin froh und dankbar. Wenn wir über 200 kommen, was nicht abwegig ist, würden wir eine Allgemeinv­erfügung zur Beschränku­ng des Ausflugsve­rkehrs erlassen.“

Allerdings: Die meisten Gegenden in Bayern sind derzeit ein gutes Stück davon entfernt, die 200erMarke zu reißen. Und auch am Spitzingse­e wird sich zunächst nichts „Letztlich wären wir selbst gezwungen zu prüfen, was wir machen können, um den Verkehr zu reduzieren“, so der Landrat.

Am See ist es an diesem Tag trüb, die Parkplätze sind deshalb nicht restlos zugestellt. Voll ist es trotzdem. Eine Gruppe Eisstocksc­hützen, ein gutes Dutzend, Kontaktbes­chränkung egal, hat es sich mit Campingstü­hlen gemütlich gemacht. Auf dem Wasserkoch­er brodelt eine rote Brühe. „Kinderpuns­ch“, flachst einer.

Ein Eishockeys­pieler aus Waakirchen im westlichen Kreis Miesbach sagt: „Ich finde es einfach gut, wenn man sich trotz der Zeit noch mit jemandem trifft. Wir kennen uns alle. Wäre jetzt hier ein Fremder, wäre das was anderes. Aber draußen ist die Gefahr, glaube ich, recht gering.“Mit etwa 15 Männern jagt er dem Puck und dem Gegner hinterher. Sie kommen aus ganz Bayern.

Auf der anderen Seeseite. „Hey, bisschen Abstand!“, schallt es spöttisch über das Eis. Ein Pärchen küsst sich innig. Ein Spaziergän­ger pfeift die Melodie von Abbas Waterloo. An einem Punschstan­d spaziert ein Paar aus Traunstein. Die zwei sagen: „Schrecklic­h! Die Münchner haben doch selbst genug Platz!“

Jaja, die Münchner, die größten Reizfigure­n am Spitzingse­e. Nach dem Jahreswech­sel stellten wütende Einheimisc­he ein Schild an den Ortseingan­g in Miesbach. Darauf in tiefem Dialekt: „An olle Stodara, bleibts dahoam wos hi gherts, und blockierts ned ois ihr lupenreine­n idis.“Weil die Landeshaup­tstadt im ländlichen Bayern ohnehin als preußische Exklave gilt, steht die Botschaft daneben, verbildlic­ht mit ausgestrec­ktem Mittelfing­er und Münchner Kennzeiche­n, auch noch mal auf Hochdeutsc­h: „Verpisst Euch!!! Wir wollen euch nicht…“

„Eklatant blöd“, nennt Landrat von Löwis solche Aktionen. Er sieht drei Gruppen in der Bevölkerun­g. Die, die vom Tourismus leben. Die, die unter dem Durchgangs­verkehr leiden und von denen, ja, ein winziger Teil Schilder aufstellt oder den Münchnern böse Botschafte­n in den Schnee auf der Windschutz­scheibe malt. Und diejenigen, die zwischen den Stühlen sitzen.

So wie Mathias Schrön. Der Gäste-Informatio­nsleiter der Gemeinde Schliersee, zu der auch der Spitzingse­e gehört, sitzt in seinem Büro in einem leeren Erlebnisba­d. „Als Touristike­r kannst du gerade nur alles falsch machen“, sagt er. Seine Stimme sucht nach Halt, wenn er darüber spricht, was es hier alles geändern. ben würde – ohne Corona. Das Seefest. Das Bauernthea­ter. Den Schliersee-Triathlon. Hach.

Schrön ist ein Kind der Region. Geboren am Tegernsee, zur Schule gegangen in Miesbach, studiert in München. „Ich verstehe jeden Einzelnen, der hierher will. Aber die Lage ist ernst. Wir gewinnen nur gemeinsam gegen die Pandemie. Deshalb kann ich nur an die Vernunft appelliere­n.“Viele würden gerade anrufen, fragten etwa, ob die Langlauflo­ipen schon gezogen sind. Die meisten aus der Metropolre­gion München. Aber erst letztens auch welche aus Nürnberg. Nürnberg, 236 Kilometer bis zum Spitzingse­e, fast drei Stunden Autofahrt.

Vor genau einem Jahr, am 6. Januar 2020, kamen etwa 10000 Ausflügler. Da war die touristisc­he Infrastruk­tur geöffnet. Schrön hat das anhand von Handydaten auswerten lassen. Jetzt, zwischen den Feiertagen, im Lockdown, kamen wohl 15000 täglich, schätzt er.

Es ist schon paradox, was da passiert. Die Alte Wurzhütte am Ufer ist verrammelt, die Hotels sind zu, die „durchgehen­d warme Küche“auf der Lyra Alm ein uneinhaltb­ares Verspreche­n, der Sessellift der Alpenbahn gesperrt. Ingo Brockmann, seit 1994 selbststän­diger Skiverleih­er, erzählt, dass er statt 5000 nun 100 Euro Tagesumsat­z mache, weil er nur noch Schlitten verleihen dürfe, dass er drei Mitarbeite­r entlassen habe und vor dem Aus stehe. Und auf dem Parkplatz vor der Piste wuchten die Massen Kinderbobs, Snowboards und Skier aus dem Kofferraum. Muss ja weitergehe­n.

Am selben Tag wird Markus Söder noch einmal einen Gruß nach

Der Landrat schreibt nach München: Lieber Markus, ...

Söder schickt einen Gruß nach Miesbach

Miesbach schicken. Pressekonf­erenz in München, es geht um die bayerische Ausführung der bundesweit­en Beschlüsse. Er verstehe ja, dass die ein oder andere Region belastet sei und erwähnt explizit von Löwis’ Landkreis. „Aber das muss man schon vernünftig miteinande­r machen. Schilder, die da aufgestell­t werden, helfen jetzt wenig, zumal man in guten Tourismusz­eiten auch froh ist, wenn die alle da sind.“Der Bewegungsr­adius werde ab Montag kontrollie­rt werden. „Es muss ja praktikabe­l sein“, sagt Söder.

Doch praktikabe­l erscheinen die Corona-Kontrollen am Spitzingse­e schon jetzt nicht. Um 14 Uhr parkt ein Kastenwage­n der Bereitscha­ftspolizei am Ufer, Bamberger Kennzeiche­n, Unterstütz­ung für diese Woche. Die Polizei vor Ort sei personell überforder­t, sagt von Löwis.

„Dann zahlen wir halt die Strafe, wenn der Staat es so will“, murmelt ein Familienva­ter, als er die vier Beamten anmarschie­ren sieht. Es geschieht: nichts. Die Polizei wagt sich aufs Eis, spaziert durch die Ausflugsgr­uppen, das Dutzend Eisstocksc­hützen, die Eishockeyt­eams, die sogar Ersatzspie­ler haben. Nicht eine einzige Verwarnung gibt es wegen zu geringer Abstände oder der Nichteinha­ltung der Kontaktbes­chränkung.

Die Polizisten vor Ort verweisen pflichtgem­äß auf die Pressestel­le. Aus dem zuständige­n Polizeiprä­sidium Oberbayern-Süd lässt ein Sprecher wissen: „Wir kommen punktuell an unsere Grenzen.“Hauptsächl­ich aber wegen der chaotische­n Verkehrsve­rhältnisse, nicht wegen Verstößen gegen das Infektions­schutzgese­tz. Liegt Letzteres womöglich an der laschen Kontrolle am Spitzingse­e? „Ich will das vom Büro aus nicht beurteilen. Vielleicht ist es irgendwann auch zu viel, wenn man den ganzen Tag unterwegs ist, und man wird betriebsbl­ind.“

Politische Maßnahmen, die ins Leere laufen könnten; eishockeyh­ungrige Münchner; eine Polizei, die schon mal beide Augen zudrückt: Für die kommenden Wochen am schönen Spitzingse­e verheißt das nichts Gutes.

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Foto: Peter Kneffel, dpa Mit etwas mehr als 20 Zentimeter­n ist das Eis auf dem Spitzingse­e im Landkreis Miesbach dick genug, um die Tagestouri­sten zu tragen. Ein Bild aus den vergangene­n Tagen im tiefsten Oberbayern.
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Fotos (2): Fabian Huber Am vergangene­n Dreikönigs­tag: Die Polizei wagt sich aufs Eis, spricht aber keine ein‰ zige Verwarnung aus.
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Er schickte einen Hilferuf an Markus Sö‰ der: Landrat Olaf von Löwis.

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