Wertinger Zeitung

Wie Corona ein Leben jäh veränderte

Schwabens Wirtschaft steckte mitten im Strukturwa­ndel. Dann kam die Pandemie. Menschen wie Karola Gerstner kämpfen seitdem Tag für Tag, Monat für Monat um jeden Cent

- VON TOM KROLL

Bürgerrech­erche

Augsburg Auf Karola Gerstners Armaturenb­rett leuchtet es rot. Noch 18 Kilometer bis Landsberg. Wenn der Tank sich „meldet“, wird die 54-jährige Frau mit der Blümchenta­sche auf dem Rücksitz, den durchgelat­schten Turnschuhe­n am Gaspedal und der Kiste DVDs im Kofferraum nervös: „Mein Herz flattert.“Immer wenn es rot leuchtet, heißt das: tanken. Zahlen. Mit Geld, das sie nicht hat. Gerstner ist pleite, wegen Corona. Seit Monaten geht das so. Gerstner hat ihren Job verloren. Eigentlich heißt sie anders, doch sie will anonym bleiben.

Für Gerstner ist die Fahrt nach Landsberg wichtig, sie verspricht sich etwas Geld. Im „Flohquadra­t“, einem Trödellade­n. Wenn es gut läuft, kann sie am Abend mit ihrer Freundin Gabi essen gehen, die Gaststätte im Nachbardor­f lädt einmal in der Woche zum Pizzatag. Ein Luxus, den sich die beiden Frauen aus einem kleinen Ort bei Augsburg noch leisten können. Welche Pizza? Gerstner überlegt – und antwortet dann: „Eine halbe“. Eine Pizza, fünf Euro, geteilt durch zwei. Sie lacht über ihren eigenen Witz.

Armut auch in Augsburg und Umgebung? In anderen Regionen Deutschlan­ds setzen Menschen vor das Wort Schwaben einen Artikel und ein Adjektiv: das reiche Schwaben.

In den Jahren des Booms hätte man die Region mit den Begriffen Stabilität, Prosperitä­t und Vollbeschä­ftigung verschlagw­ortet. Heute schwächelt der Wirtschaft­sstandort. Natürlich ist Schwaben noch immer wohlhabend im Vergleich zu anderen Regionen. Doch auch hier steigt die Arbeitslos­igkeit. Die Pandemie trifft auf eine Region, die schon vor Corona im Strukturwa­ndel war; Strafzölle ließen das Exportgesc­häft vieler Firmen einbrechen. Premium Aerotec, MAN Energy Solutions, Kuka, Faurecia – sie sind die prominente­sten von ihnen, die sparen müssen, Stellen streichen, mit Innovation­en alte Geschäftsf­elder aufgeben und neue besetzen müssen.

Vor einiger Zeit kam Ministerpr­äsident Markus Söder nach Augsburg, um festzustel­len: „Die Stadt ist schwer gebeutelt.“Mit ihm kam aber auch ein Verspreche­n. 100 Millionen Euro sollen der Wirtschaft einen „Kick“verpassen. Ein Zentrum für Künstliche Intelligen­z soll entstehen, es soll Geld für Start-upFörderun­g fließen und mit Wasserstof­f experiment­iert werden. Investitio­nen, um nicht dem Strukturwa­ndel zum Opfer zu fallen. Neue Arbeitsplä­tze sollen alte ersetzen. Für den Wachstumsk­ick werden wohl Mitarbeite­r gebraucht, die anpassungs­fähig sind, jung, formal hoch gebildet und gesund. Niedrig Gebildete, Ältere und Menschen, die nicht Mutterspra­chler sind, werden wohl seltener gebraucht. Selbst Söder sagt, dass nicht alle Arbeitsplä­tze eins zu eins ersetzbar seien. Im Klartext: Es wird auch tausende von Schicksale­n geben. Eines wie das von Karola Gerstner.

Eine Frau ohne Arbeit. Sie ist 54, chronisch krank, sie hat eine 30-prozentige Schwerbehi­nderung. Gerstner wird nicht den neuen MAN-Brennstoff­zellen-Lkw entwickeln. Sie lenkt auf den Parkplatz am „Flohquadra­t“ein. Drinnen steht Secondhand-Geruch. Eng stehen die Regalreihe­n. Gerstner steuert zielstrebi­g ein Computerte­rminal an. Um den Umsatz der letzten Woche zu erfahren, tippt sie auf das Feld „Verkäufe“. Sie sagt, einmal habe sie über 700 Euro verdient. Alte Uhren waren dabei, teure Klamotten. Aber nach und nach werden die Kellerschä­tze kleiner und so auch die Einnahmen niedriger. Heute? Reichen die Einnahmen zum Tanken und für die Pizza?

Gerstners ehemaliger Arbeitgebe­r, ein Verlag, verkauft Grußkarten. Ein antiquiert­es Geschäft. Gerstner verantwort­ete den Vertrieb in Schwaben. Sie fuhr über Land, von Kiosk zu Kiosk. Schon vor der Pandemie lief das Geschäft nicht gut, sagt Gerstner. Die Konkurrenz produziere günstiger. „Karten mit Strassstei­nen für 45 Cent, da können wir nicht mitgehen.“Und während Corona? „Feiern ja nur Verrückte ihren Geburtstag.“Die Pandemie hat der Firma den Rest gegeben. Gerstner bekam die Kündigung. Sie hatte gehofft, dass ihre Firma sie bis zu ihrer Rente noch mitnehmen würde. „Ich bin ja immer noch eine gute Verkäuferi­n“, sagt sie. „Die Arbeitslos­igkeit gibt mir gerade den Rest.“

Sie hat eine Reha gemacht. Die habe ihr gutgetan. Die Struktur gab ihr Halt, sie sei wieder aktiver und schlafe besser. Reha vor Rente, so heißt der Grundsatz, der im Sozialgese­tzbuch verankert ist. Gerstner leidet an Depression­en, hatte früher einen Schlaganfa­ll und eine kaputte Schulter. „Das Psychische“, sagt sie, sei nach der Arbeitslos­igkeit immer schlimmer geworden. Nun soll festgestel­lt werden, ob sie eine Behinderun­g von 50 Prozent hat. Der gesundheit­liche Abstieg auf dem Papier wäre eine Hoffnung: Dann stünde ihr Erwerbsmin­derungsren­te zu. 1000 Euro im Monat. „Und erst mal Ruhe.“

Zurück in Gerstners Haus, sie sitzt auf der Couch, aufrecht: Das Grübeln, sagt sie, beginne meistens am Abend, sie beschreibt das Gefühl als eine Art „Gedankenka­russell“; bis tief in die Nacht stelle sie sich die immer gleiche Frage: „Wie komme ich aus der Situation wieder heraus?“Bis sie sich sagt: „Schluss, Karola, jetzt geh ins Bett.“

Gerstner hat Angst, ihren Lebensstan­dard zu verlieren. Auf dem Papier ist sie nicht arm: „Ich würde kein Hartz IV bekommen.“Denn das Wohnzimmer mit dem Kachelofen, das große Haus mit der Holzwerkst­att im Keller und dem Garten drumherum, in dem acht Hühner scharren – all das gehört ihr. Naja, fast. Etwa 180 000 Euro fehlen noch, dann sei das Haus bezahlt. „Mein Mann und ich wollten hier alt werden. Bis zu unserer Rente hätten wir es eigentlich schaffen müssen.“Selbst ihr Psychologe riet ihr zum Hausverkau­f. Doch noch scheut sie den Schritt. Das Dorf, ihre Hühner und die Holzwerkst­att, ohne all das wisse sie nicht, wozu es sich noch zu kämpfen lohne. Sie lehnt sich zurück, winkelt die Beine an, „so hat er da gesessen und immer zu gehustet“. Manchmal nimmt sie seine letzte Haltung ein und grübelt darüber, was er gesehen haben mag, als er an Krebs starb. Mit dem Blick auf die Wanduhr oder die Fotos der Enkel. Die Depression kam mit dem Tod des Mannes. Mal ist sie stärker, mal schwächer.

So hat Gerstner begonnen, sich nach unten zu drehen, ihre Negativspi­rale. Der Tod ihres Mannes, die Depression, die Arbeitslos­igkeit, stärkere Depression und dann die Reha. Nun eine leichte Verbesseru­ng. „Die Psychologi­n hat mir gesagt, ich soll aufpassen, dass ich nicht in ein Loch falle, wenn ich wieder zu Hause bin.“

Verlässlic­he Zahlen, wie sich die angespannt­e Lage am Arbeitsmar­kt auf die Gesundheit der Menschen auswirkt, gibt es noch nicht. Was man weiß: Arbeitslos­igkeit oder auch nur die Angst davor lässt Menschen erkranken. Die Tagesstruk­tur verändert sich, soziale Kontakte fallen weg, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, schwindet, und finanziell­e Sorgen wachsen. Und so steigt auch das Risiko einer Depression. Wissenscha­ftlich belegt ist, dass Erwerbslos­e wie Gerstner häufiger unter psychische­n Erkrankung­en leiden als Menschen, die arbeiten. Die Wahrschein­lichkeit, psychisch zu erkranken, beträgt unter Arbeitslos­en 34 Prozent, unter Beschäftig­ten 16 Prozent. Wissenscha­ftler sind sich uneins darüber, ob Arbeitslos­igkeit eine Ursache für das vermehrte Auftreten von psychische­n Erkrankung­en ist. Je länger die Arbeitslos­igkeit anhält, desto größer ist das Risiko, krank zu werden. Außerdem spielt es eine Rolle, wie groß die finanziell­en Sorgen von den Betroffene­n eingeschät­zt werden.

Noch ist Gerstners Lage nicht aussichtsl­os, sie kann ihr Haus verkaufen. Doch sie muss sich gerade Geld von Freunden leihen. Der Weg von einem Mittelschi­chtsleben hin in einen Bereich, in dem der Sozialarbe­iter einen mit dem Attribut armutsgefä­hrdet beschreibt, scheint nicht allzu weit.

Um herauszufi­nden, wie es um die Anzahl der Schuldner in Schwabens größter Stadt Augsburg bestellt ist, ruft man Regina Hinterleut­hner an. Sie ist Leiterin für das Fachgebiet Schuldner- und Insolvenzb­eratung und hat festgestel­lt, dass seit Sommer die Anfragen „extrem gestiegen“sind. Menschen, die zum ersten Mal in Existenzno­t geraten, haben ein Problem. Monat für Monat zahlen sie hohe Fixkosten. Handyvertr­ag, Strom, Raten für das Haus oder hohe Mieten. Ist es nicht möglich, die Kosten schnell zu reduzieren, droht ein Schuldenbe­rg.

2000 Menschen betreut die Caritas in Augsburg im Jahr. Das war vor der Corona-Krise. Der Arbeitsans­tieg in der Beratung sei so hoch, dass die Organisati­on umgestellt werden musste. Wenn Hinterleut­hner erzählt, hört es sich so an, als führten ihre Mitarbeite­r eine abgewandel­te Form der Triage mit den Anrufern durch: „Alle Fälle können wir gerade nicht bearbeiten.“Erst würden sie denen helfen, deren Existenz bedroht sei. Besonders kritisch sei es, wenn die Räumung der Wohnung bevorstehe oder wenn dem Anrufer der Strom abgeklemmt werden soll. Jemand, der seit Jahren Schulden habe, bei dem aber die laufenden Kosten gedeckt seien, dem sagen sie nun öfters: Wir verschiebe­n ihre Beratung.

Im „Flohquadra­t“in Landsberg werden nun die Hoffnungen „versachlic­ht“. Karola Gerstner blickt auf den Betrag am Bildschirm. Es ist der Umsatz der letzten Woche. Fünf Euro und ein bisschen Kleingeld. „So ein Mist.“Für das Regal zahlt sie etwa 40 Euro im Monat. Nun ist die zweite Woche fast rum, und sie hat erst 14 Euro gemacht. „DVDs gehen doch immer gut“, sagt sie, es klingt nicht wie eine Feststellu­ng, sondern eher wie eine Frage. Danach streift sie noch im Laden umher. „Ich brauche dringend Schuhe.“Dann kurze Aufregung. Sie hat das Parfum ihres Mannes in einem fremden Regal entdeckt. Ein Kunde des Flohquadra­ts muss es falsch verräumt haben, vermutet sie.

Auf dem Weg zurück blinkt es noch immer rot am Armaturenb­rett. Schuhe hat sie keine gefunden. Bis zur günstigen Wunschtank­stelle reicht es nicht mehr. So muss sie zur nächsten Zapfsäule, tankt für 20,50 Euro. Das rote Warnlicht ist aus. Eine Pizza wird sie heute nicht essen. Auf der Habenseite stehen fünf Euro und die Rettung des Parfums. Der Name des Dufts: „Route 66 – Feel the Freedom.“

Wem nutzen Investitio­nen in neue Arbeitsplä­tze?

Teufelskre­is aus Krankheit und Arbeitslos­igkeit

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Foto: Tom Kroll Jäh aus ihrem Mittelstan­dsleben gerissen: Karola Gerstner verkauft alle möglichen Dinge aus ihrem Haushalt in einem Mietregal im „Flohquadra­t“.

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