Wie Corona ein Leben jäh veränderte
Schwabens Wirtschaft steckte mitten im Strukturwandel. Dann kam die Pandemie. Menschen wie Karola Gerstner kämpfen seitdem Tag für Tag, Monat für Monat um jeden Cent
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Augsburg Auf Karola Gerstners Armaturenbrett leuchtet es rot. Noch 18 Kilometer bis Landsberg. Wenn der Tank sich „meldet“, wird die 54-jährige Frau mit der Blümchentasche auf dem Rücksitz, den durchgelatschten Turnschuhen am Gaspedal und der Kiste DVDs im Kofferraum nervös: „Mein Herz flattert.“Immer wenn es rot leuchtet, heißt das: tanken. Zahlen. Mit Geld, das sie nicht hat. Gerstner ist pleite, wegen Corona. Seit Monaten geht das so. Gerstner hat ihren Job verloren. Eigentlich heißt sie anders, doch sie will anonym bleiben.
Für Gerstner ist die Fahrt nach Landsberg wichtig, sie verspricht sich etwas Geld. Im „Flohquadrat“, einem Trödelladen. Wenn es gut läuft, kann sie am Abend mit ihrer Freundin Gabi essen gehen, die Gaststätte im Nachbardorf lädt einmal in der Woche zum Pizzatag. Ein Luxus, den sich die beiden Frauen aus einem kleinen Ort bei Augsburg noch leisten können. Welche Pizza? Gerstner überlegt – und antwortet dann: „Eine halbe“. Eine Pizza, fünf Euro, geteilt durch zwei. Sie lacht über ihren eigenen Witz.
Armut auch in Augsburg und Umgebung? In anderen Regionen Deutschlands setzen Menschen vor das Wort Schwaben einen Artikel und ein Adjektiv: das reiche Schwaben.
In den Jahren des Booms hätte man die Region mit den Begriffen Stabilität, Prosperität und Vollbeschäftigung verschlagwortet. Heute schwächelt der Wirtschaftsstandort. Natürlich ist Schwaben noch immer wohlhabend im Vergleich zu anderen Regionen. Doch auch hier steigt die Arbeitslosigkeit. Die Pandemie trifft auf eine Region, die schon vor Corona im Strukturwandel war; Strafzölle ließen das Exportgeschäft vieler Firmen einbrechen. Premium Aerotec, MAN Energy Solutions, Kuka, Faurecia – sie sind die prominentesten von ihnen, die sparen müssen, Stellen streichen, mit Innovationen alte Geschäftsfelder aufgeben und neue besetzen müssen.
Vor einiger Zeit kam Ministerpräsident Markus Söder nach Augsburg, um festzustellen: „Die Stadt ist schwer gebeutelt.“Mit ihm kam aber auch ein Versprechen. 100 Millionen Euro sollen der Wirtschaft einen „Kick“verpassen. Ein Zentrum für Künstliche Intelligenz soll entstehen, es soll Geld für Start-upFörderung fließen und mit Wasserstoff experimentiert werden. Investitionen, um nicht dem Strukturwandel zum Opfer zu fallen. Neue Arbeitsplätze sollen alte ersetzen. Für den Wachstumskick werden wohl Mitarbeiter gebraucht, die anpassungsfähig sind, jung, formal hoch gebildet und gesund. Niedrig Gebildete, Ältere und Menschen, die nicht Muttersprachler sind, werden wohl seltener gebraucht. Selbst Söder sagt, dass nicht alle Arbeitsplätze eins zu eins ersetzbar seien. Im Klartext: Es wird auch tausende von Schicksalen geben. Eines wie das von Karola Gerstner.
Eine Frau ohne Arbeit. Sie ist 54, chronisch krank, sie hat eine 30-prozentige Schwerbehinderung. Gerstner wird nicht den neuen MAN-Brennstoffzellen-Lkw entwickeln. Sie lenkt auf den Parkplatz am „Flohquadrat“ein. Drinnen steht Secondhand-Geruch. Eng stehen die Regalreihen. Gerstner steuert zielstrebig ein Computerterminal an. Um den Umsatz der letzten Woche zu erfahren, tippt sie auf das Feld „Verkäufe“. Sie sagt, einmal habe sie über 700 Euro verdient. Alte Uhren waren dabei, teure Klamotten. Aber nach und nach werden die Kellerschätze kleiner und so auch die Einnahmen niedriger. Heute? Reichen die Einnahmen zum Tanken und für die Pizza?
Gerstners ehemaliger Arbeitgeber, ein Verlag, verkauft Grußkarten. Ein antiquiertes Geschäft. Gerstner verantwortete den Vertrieb in Schwaben. Sie fuhr über Land, von Kiosk zu Kiosk. Schon vor der Pandemie lief das Geschäft nicht gut, sagt Gerstner. Die Konkurrenz produziere günstiger. „Karten mit Strasssteinen für 45 Cent, da können wir nicht mitgehen.“Und während Corona? „Feiern ja nur Verrückte ihren Geburtstag.“Die Pandemie hat der Firma den Rest gegeben. Gerstner bekam die Kündigung. Sie hatte gehofft, dass ihre Firma sie bis zu ihrer Rente noch mitnehmen würde. „Ich bin ja immer noch eine gute Verkäuferin“, sagt sie. „Die Arbeitslosigkeit gibt mir gerade den Rest.“
Sie hat eine Reha gemacht. Die habe ihr gutgetan. Die Struktur gab ihr Halt, sie sei wieder aktiver und schlafe besser. Reha vor Rente, so heißt der Grundsatz, der im Sozialgesetzbuch verankert ist. Gerstner leidet an Depressionen, hatte früher einen Schlaganfall und eine kaputte Schulter. „Das Psychische“, sagt sie, sei nach der Arbeitslosigkeit immer schlimmer geworden. Nun soll festgestellt werden, ob sie eine Behinderung von 50 Prozent hat. Der gesundheitliche Abstieg auf dem Papier wäre eine Hoffnung: Dann stünde ihr Erwerbsminderungsrente zu. 1000 Euro im Monat. „Und erst mal Ruhe.“
Zurück in Gerstners Haus, sie sitzt auf der Couch, aufrecht: Das Grübeln, sagt sie, beginne meistens am Abend, sie beschreibt das Gefühl als eine Art „Gedankenkarussell“; bis tief in die Nacht stelle sie sich die immer gleiche Frage: „Wie komme ich aus der Situation wieder heraus?“Bis sie sich sagt: „Schluss, Karola, jetzt geh ins Bett.“
Gerstner hat Angst, ihren Lebensstandard zu verlieren. Auf dem Papier ist sie nicht arm: „Ich würde kein Hartz IV bekommen.“Denn das Wohnzimmer mit dem Kachelofen, das große Haus mit der Holzwerkstatt im Keller und dem Garten drumherum, in dem acht Hühner scharren – all das gehört ihr. Naja, fast. Etwa 180 000 Euro fehlen noch, dann sei das Haus bezahlt. „Mein Mann und ich wollten hier alt werden. Bis zu unserer Rente hätten wir es eigentlich schaffen müssen.“Selbst ihr Psychologe riet ihr zum Hausverkauf. Doch noch scheut sie den Schritt. Das Dorf, ihre Hühner und die Holzwerkstatt, ohne all das wisse sie nicht, wozu es sich noch zu kämpfen lohne. Sie lehnt sich zurück, winkelt die Beine an, „so hat er da gesessen und immer zu gehustet“. Manchmal nimmt sie seine letzte Haltung ein und grübelt darüber, was er gesehen haben mag, als er an Krebs starb. Mit dem Blick auf die Wanduhr oder die Fotos der Enkel. Die Depression kam mit dem Tod des Mannes. Mal ist sie stärker, mal schwächer.
So hat Gerstner begonnen, sich nach unten zu drehen, ihre Negativspirale. Der Tod ihres Mannes, die Depression, die Arbeitslosigkeit, stärkere Depression und dann die Reha. Nun eine leichte Verbesserung. „Die Psychologin hat mir gesagt, ich soll aufpassen, dass ich nicht in ein Loch falle, wenn ich wieder zu Hause bin.“
Verlässliche Zahlen, wie sich die angespannte Lage am Arbeitsmarkt auf die Gesundheit der Menschen auswirkt, gibt es noch nicht. Was man weiß: Arbeitslosigkeit oder auch nur die Angst davor lässt Menschen erkranken. Die Tagesstruktur verändert sich, soziale Kontakte fallen weg, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, schwindet, und finanzielle Sorgen wachsen. Und so steigt auch das Risiko einer Depression. Wissenschaftlich belegt ist, dass Erwerbslose wie Gerstner häufiger unter psychischen Erkrankungen leiden als Menschen, die arbeiten. Die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken, beträgt unter Arbeitslosen 34 Prozent, unter Beschäftigten 16 Prozent. Wissenschaftler sind sich uneins darüber, ob Arbeitslosigkeit eine Ursache für das vermehrte Auftreten von psychischen Erkrankungen ist. Je länger die Arbeitslosigkeit anhält, desto größer ist das Risiko, krank zu werden. Außerdem spielt es eine Rolle, wie groß die finanziellen Sorgen von den Betroffenen eingeschätzt werden.
Noch ist Gerstners Lage nicht aussichtslos, sie kann ihr Haus verkaufen. Doch sie muss sich gerade Geld von Freunden leihen. Der Weg von einem Mittelschichtsleben hin in einen Bereich, in dem der Sozialarbeiter einen mit dem Attribut armutsgefährdet beschreibt, scheint nicht allzu weit.
Um herauszufinden, wie es um die Anzahl der Schuldner in Schwabens größter Stadt Augsburg bestellt ist, ruft man Regina Hinterleuthner an. Sie ist Leiterin für das Fachgebiet Schuldner- und Insolvenzberatung und hat festgestellt, dass seit Sommer die Anfragen „extrem gestiegen“sind. Menschen, die zum ersten Mal in Existenznot geraten, haben ein Problem. Monat für Monat zahlen sie hohe Fixkosten. Handyvertrag, Strom, Raten für das Haus oder hohe Mieten. Ist es nicht möglich, die Kosten schnell zu reduzieren, droht ein Schuldenberg.
2000 Menschen betreut die Caritas in Augsburg im Jahr. Das war vor der Corona-Krise. Der Arbeitsanstieg in der Beratung sei so hoch, dass die Organisation umgestellt werden musste. Wenn Hinterleuthner erzählt, hört es sich so an, als führten ihre Mitarbeiter eine abgewandelte Form der Triage mit den Anrufern durch: „Alle Fälle können wir gerade nicht bearbeiten.“Erst würden sie denen helfen, deren Existenz bedroht sei. Besonders kritisch sei es, wenn die Räumung der Wohnung bevorstehe oder wenn dem Anrufer der Strom abgeklemmt werden soll. Jemand, der seit Jahren Schulden habe, bei dem aber die laufenden Kosten gedeckt seien, dem sagen sie nun öfters: Wir verschieben ihre Beratung.
Im „Flohquadrat“in Landsberg werden nun die Hoffnungen „versachlicht“. Karola Gerstner blickt auf den Betrag am Bildschirm. Es ist der Umsatz der letzten Woche. Fünf Euro und ein bisschen Kleingeld. „So ein Mist.“Für das Regal zahlt sie etwa 40 Euro im Monat. Nun ist die zweite Woche fast rum, und sie hat erst 14 Euro gemacht. „DVDs gehen doch immer gut“, sagt sie, es klingt nicht wie eine Feststellung, sondern eher wie eine Frage. Danach streift sie noch im Laden umher. „Ich brauche dringend Schuhe.“Dann kurze Aufregung. Sie hat das Parfum ihres Mannes in einem fremden Regal entdeckt. Ein Kunde des Flohquadrats muss es falsch verräumt haben, vermutet sie.
Auf dem Weg zurück blinkt es noch immer rot am Armaturenbrett. Schuhe hat sie keine gefunden. Bis zur günstigen Wunschtankstelle reicht es nicht mehr. So muss sie zur nächsten Zapfsäule, tankt für 20,50 Euro. Das rote Warnlicht ist aus. Eine Pizza wird sie heute nicht essen. Auf der Habenseite stehen fünf Euro und die Rettung des Parfums. Der Name des Dufts: „Route 66 – Feel the Freedom.“
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Teufelskreis aus Krankheit und Arbeitslosigkeit