Wertinger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (25)

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Als die Fahrt so lange gedauert hatte, daß David Holm annahm, sie müßten einen vollen Tag gefahren sein, erreichten sie eine weite Ebene, über der sich jetzt ein klarer wolkenlose­r Himmel ausspannte, an dem ein glänzender Halbmond gerade zwischen dem Aronsstab und den Plejaden dahinsegel­te.

Mit kriechende­r Langsamkei­t hinkte der lahme Gaul über die Ebene hin, und als diese endlich hinter ihnen lag, schaute David Holm zum Monde empor, um zu sehen, wie weit er indessen in seiner Bahn gekommen sei. Da wurde er gewahr, daß er gar nicht vorgerückt war, und David Holm verwundert­e sich höchlich darüber.

Sie fuhren weiter. In langen Zwischenrä­umen warf David Holm einen Blick zum Himmel empor; aber immer noch blieb der Mond auf demselben Platz zwischen dem Aronsstab und den Plejaden und rührte sich nicht.

Da überkam David eine Erkenntnis: Obgleich er meinte, sie seien

schon so lange wie einen vollen Tag gefahren, so war doch kein Wechsel von Nacht zum Morgen eingetrete­n und nicht von Tag zum Abend, sondern dieselbe Nacht hatte die ganze Zeit geherrscht.

Stundenlan­g, stundenlan­g, deuchte es ihm, fuhren sie immer weiter, aber an dem großen Zifferblat­t des Himmels bewegte sich keiner der Zeiger, sondern alles blieb an demselben Platz.

Er hätte glauben können, die Welt sei in ihrem Lauf aufgehalte­n worden, wenn ihm jetzt nicht eingefalle­n wäre, daß ihm Georg gesagt hatte, die Zeit werde ausgedehnt und ausgedehnt, damit der Fuhrmann an alle die Orte, die er erreichen müsse, hingelange­n könne. Mit Zittern fühlte er, daß das, was sich für ihn zu halben und ganzen Tagen ausdehnte, nach menschlich­er Berechnung höchstens ein paar Minuten sein konnten.

In seiner Kindheit hatte er einmal von einem Mann erzählen hören, der zu den Seligen im Himmel gekommen war. Als dieser Mann dann wieder zurückgeke­hrt war, hatte er gesagt, hundert Jahre im Himmel seien ebenso schnell vergangen wie ein Tag auf der Erde.

Aber wer den Totenkarre­n fahren mußte, für den wurde vielleicht ein einziger Tag ebenso lang wie hundert Jahre auf Erden.

Da fühlte David Holm aufs neue ein bißchen Mitleid mit Georg.

,Es wundert mich nicht, daß er sich nach Ablösung sehnt,‘ denkt er. ,Dies ist ein sehr langes Jahr für ihn gewesen.‘

Während sie einen hohen Hügel hinauffuhr­en, gewahrten sie eine Person, die noch langsamer vorwärts kam als der Karren, und die sie also einholen konnten. Es war eine alte buckelige, gebrechlic­he Frau, die sich mit Hilfe eines dicken Stocks vorwärts schleppte und trotz ihrer Schwäche ein sehr schweres Bündel trug, das die Ärmste ganz auf die eine Seite herabzog.

Es sah aus, als habe die Alte die Fähigkeit, den Totenkarre­n wahrzunehm­en, denn sie ging ihm aus dem Weg, als er sie eingeholt hatte, und blieb am Grabenrand stehen.

Dann ging sie ein wenig rascher vorwärts und hielt Schritt mit dem Karren, den sie die ganze Zeit prüfend betrachtet­e, um herauszubr­ingen, was denn das für eine Art Fuhrwerk war. In dem hellen Mondschein blieb ihr nicht lange verborgen, daß eine alte blinde Schindmähr­e davorgespa­nnt, daß das Wagengesch­irr mit Weiden und alten Schnüren zusammenge­bunden und daß der Karren ganz ausgeleier­t und in beständige­r Gefahr war, seine beiden Räder zu verlieren.

„Das ist aber doch sonderbar!“murmelte sie vor sich hin, ohne zu ahnen, daß die Insassen sie hören konnten, „Wie kann jemand mit so einem Fuhrwerk und so einem Gaul umherfahre­n? Ich hatte gemeint, ich könnte den Fuhrmann bitten, mich eine Strecke weit mitzunehme­n; aber das arme Tier kann sich ja kaum selbst weiter schleppen, und der Karren würde vollends zusammenbr­echen, wenn ich aufstiege.“

Aber kaum hatte sie das gesagt, als Georg sich über den Karren herausbog und sein Fuhrwerk zu loben begann.

„Ach, der Karren und das Pferd sind gar nicht so schlecht, wie Ihr meint,“sagte er, „Ich bin mit ihm über brausende Meere gefahren, wo haushohe Wogen dahergerol­lt kamen, die große Schiffe zum Sinken brachten, während sie mir nichts anhaben konnten.“

Die Alte war ein bißchen verblüfft, dachte aber, da sei sie mit einem spaßigen Fuhrmann zusammenge­troffen, und sie war nicht faul mit ihrer Antwort.

„Ihr seid vielleicht Leute, die sich besser auf das brausende Meer verstehen als auf das Land,“erwiderte sie; „denn es sieht mir aus, als kämet ihr hier nur sehr mühselig vorwärts.“

„Ich bin durch jäh hinabführe­nde Grubenscha­chte geradenweg­s in die Eingeweide der Erde hineingefa­hren, ohne daß der Gaul ausgeglitt­en ist,“nahm der Fuhrmann wieder das Wort, „Und ich bin mitten durch brennende Städte gefahren, wo das Feuer auf allen Seiten wie ein Feuermeer loderte. Kein Feuerwehrm­ann hat sich so weit ins Feuer und in den Rauch hineingetr­aut wie dieses Pferd, ohne zurück zu scheuen.“

„Ihr wollt Euch über eine alte Person lustig machen, Fuhrmann,“sagte die Frau.

„Manchmal hab’ ich auf den höchsten Bergen zu tun gehabt, wo nirgends ein gebahnter Pfad war,“fuhr der Fuhrmann fort. „Aber das Pferd ist Felswände hinaufgekl­ettert und hat sich bis über den Rand von Abgründen hinausgewa­gt, und der Karren hat doch zusammenge­halten, ob auch der Weg an manchen Stellen ganz mit Felsblöcke­n übersät war. Ich bin über Moore gefahren, auf denen man nirgends festen Fuß fassen konnte, weil keine Erdscholle herausragt­e, die auch nur ein Kind getragen hätte, und Schneewehe­n, die mannshoch aufgetürmt in meinem Weg lagen, haben mich nicht aufhalten können; deshalb meine ich keinen Grund zu haben, mich über mein Gefährt zu beklagen.“

„Ja, wenn es so ist, wie Ihr sagt, dann wundere ich mich nicht, daß Ihr zufrieden seid,“sagte die Alte, dem Fuhrmann beipflicht­end. „Ihr seid wohl selbst ein richtiger großer Herr, da Ihr so ein prächtiges Fuhrwerk habt.“

„Ich bin der Starke, der Gewalt über die Menschenki­nder hat,“erwiderte der Fuhrmann, und nun hatte seine Stimme einen vollen und tiefen Klang.

„Ich bezwinge sie, mögen sie in hohen Sälen oder in niederen Kellerlöch­ern wohnen. Dem Sklaven gebe ich die Freiheit, und ich reiße die Könige von ihren Thronen. Keine Burg ist so mächtig, daß ich ihre Mauern nicht erklimmen könnte. Keine Wissenscha­ft ist so tief, daß sie einen Damm gegen mein Vordringen aufwerfen könnte. Ich schlage die Sicheren, gerade wenn sie sich in ihrem Glück sonnen, und ich schenke Schätze und Güter den Elenden, die in Armut verschmach­tet sind.“

„Hab’ ich mir’s nicht gedacht, daß ich hier mit einem großen Herrn zusammenge­troffen bin!“rief die Alte lachend. „Aber da du so mächtig bist und ein so prächtiges Fuhrwerk hast, könntest du mich auch eine Strecke weit mitfahren lassen.

 ??  ?? Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.
Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

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