Wertinger Zeitung

„Der Staat wird von Beratungsf­irmen übernommen“

Über die fatale Blindheit des wirtschaft­lichen Fortschrit­ts – und wie die Technik helfen kann

- Interview: Georg Diez

Was hat uns Corona über den Kapitalism­us gelehrt?

Evgeny Morozov: Ich glaube nicht, dass wir durch Corona irgendetwa­s über den Kapitalism­us erfahren haben, was wir vorher noch nicht wussten – ein System, das bestimmte Prioritäte­n setzt, die in erster Linie den Prinzipien der Profitabil­ität und Kostensenk­ung folgen. Im Fall von Covid-19 zeigte sich das in den Debatten zur Frage, was als systemrele­vante Arbeit zählt und was nicht. Die Allokation und Verteilung von Wert im Kapitalism­us trat in den Vordergrun­d. Die Reichen wurden reicher, ja, und ich kann das auch als moralisch empörend empfinden – aber intellektu­ell fand ich das wenig erhellend.

Und wie sehen Sie den Triumph des Plattform-Kapitalism­us, den Triumph digitaler Unternehme­n in dieser Krise?

Morozov: Auch hier sehe ich Corona als falsche Fährte – die Krise war weder ein Katalysato­r noch hat sie irgendetwa­s Neues zum Vorschein gebracht. Wenn Sie mich aber fragen würden, ob der Kapitalism­us bestimmte Probleme mit sich bringt und ob die Technologi­e bestimmte Antworten auf diese Probleme geben kann, würde ich das natürlich bejahen: Es gibt gewaltige strukturel­le Probleme im Kapitalism­us.

Was sind die Hauptprobl­eme? Morozov: Die meisten größeren Missverstä­ndnisse und Probleme mit dem Kapitalism­us haben damit zu tun, wie er das blockiert und behindert, was ich Entdeckung­en nennen würde. Der Kapitalism­us erschwert es uns tatsächlic­h, die Welt zu entdecken, wie sie wirklich ist, sich zum Beispiel deutlich beim Thema des Klimas zeigt. Man sieht es aber auch daran, wie der Kapitalism­us uns an der Einrichtun­g von Institutio­nen hindert, mit denen wir gemeinsam Probleme lösen können – nicht Institutio­nen des Marktes, die die Probleme, die sie selbst geschaffen haben, noch beschleuni­gen.

War das schon immer ein Element des Kapitalism­us?

Morozov: Marx sah im Kapitalism­us ein befreiende­s Element, weil er die herkömmlic­he Religion zerstört – aber gleichzeit­ig beschneide­t und begrenzt der Kapitalism­us diese Befreiung. Hayek hatte recht damit, dass der Kapitalism­us Entdeckung­en ermöglicht. Sinn und Zweck einer Marktwirts­chaft ist ja nichts anderes, als neue Entdeckung­en durch Wettbewerb zu erleichter­n – entdeckt werden dabei aber nur Dinge, die den Verkauf von Waren mit Gewinn erleichter­n oder den Warenkonsu­m verbillige­n können. Alle anderen Formen von Wissen oder die Fähigkeit, Institutio­nen zu schaffen, werden schlicht nicht anerkannt. Sie werden gar nicht unbedingt unterdrück­t – aber eben auch nicht wertgeschä­tzt.

Sie glauben – wie Marx – an die emanzipato­rische Kraft der Technologi­e? Morozov: Die Technologi­e legt den Blick frei auf die Dinge, wie sie wirklich sind, und ermöglicht uns die experiment­elle Entdeckung von Neuem, neuen Formen der Gemeinscha­ftlichkeit, neuen Formen des Handelns. Das würde aber natürlich eine ganz andere Vision von Technologi­e voraussetz­en, jenseits des rein Instrument­ellen, die offenlegt, wie die Welt wirklich ist.

Könnten Sie an einem Beispiel illustrier­en, was Sie damit meinen? Morozov: Nehmen wir ein städtische­s Verkehrssy­stem – das einem vielleicht extrem effizient vorkommt und von Designern und Architekte­n nach bestimmten Optimierun­gskriterie­n geplant und gebaut wurde. Deren Narrativ ist, dass das System effizient ist. Das Gegennarra­tiv erzählt aber von den vielen Problemen, denen Menschen mit Behinderun­gen in dieser öffentlich­en Infrastruk­tur begegnen – und auf einmal sieht man, dass es in Wirklichke­it ein höchst ineffizien­tes System ist. Der Grund für diese Einsicht ist der Zugang zu einem zusätzlich­en Datensatz, von dem man vorher nichts wusste. Der Begriff der Effizienz beschreibt also nichts universell gülwas tiges Gutes und Wahres. Was für die einen effizient ist, ist für die anderen höchst ineffizien­t.

In diesem Sinne ist die Technologi­e ein Mittel der Aufklärung.

Morozov: Was wir diskutiere­n sollten, ist die Rolle der Politik in dem Ganzen. Die Dichotomie von Technologi­e und Politik lehne ich ab. Was in einer bestimmten historisch­en Epoche als Technologi­e gilt, ist immer das Ergebnis von politische­n Machtkämpf­en und Hegemonien. Mich interessie­ren Fragen wie: Wie können wir uns ernsthaft mit der Frage der Technik auseinande­rsetzen? Wie verhält sich Technologi­e zur Frage der Moderne? Was ist eine kapitalist­ische Moderne? Was wäre eine nicht-kapitalist­ische Moderne? Und wie verhält sich das wiederum zu Fragen der Autonomie, der Emanzipati­on und der Technologi­e?

Aber wer beschäftig­t sich mit solchen Fragen im Bereich der Politik? Morozov: Mit Sicherheit nicht die Linken. Die Linke weiß nicht, wie sie sich gegenüber dem Kapitalism­us positionie­ren soll, sie scheint kein alternativ­es System zum Kapitalism­us aufbauen zu wollen. Aber dann findet man sich in der seltsamen Situation wieder, dass sogar sozialisti­sch denkende Kandidaten sowohl in Großbritan­nien als auch in den USA der Ansicht sind, dass die beste Lösung darin bestünde, das Schweden der 1970er Jahre nachzubild­en. Das Problem ist: Selbst wenn man es schaffen würde, Jeff Bezos und Elon Musk durch eine progressiv­ere Besteuerun­g loszuwerde­n, würden die Fragen zur Umweltkris­e oder den Beziehunge­n zwischen dem Norden und dem Süden nicht verschwind­en.

Eine Rückkehr zu Modellen der 1970er Jahre würde die Rückkehr des Staates bedeuten?

Morozov: Eine Folge von Corona wird ganz sicher sein, dass die Regierunge­n viele strukturel­le Veränderun­gen vornehmen werden. Sie verfügen über eine Menge Geld, das ihnen zufließt, aber oft über keine starke Bürokratie, mit der sie den Wandel vorantreib­en könnten. Für Hilfe wenden sie sich dann meist an große Beratungsf­irmen, große Anwaltskan­zleien und große Tech-Firmen – Beratung von außerhalb für Veränderun­gen innerhalb der geschwächt­en staatliche­n Behörden. Das ist das Ergebnis einer sehr strategisc­hen Umformung der Bürokratie, mit Aktionspla­n und klaren Richtlinie­n. Der Staat wird von Beratungsf­irmen übernommen, weil es im Wesen des neoliberal­en Staates liegt, solche öffentlich-privaten Partnersch­aften aufzubauen. Corona beschleuni­gt diese Entwicklun­g hin zum Beratungsk­apitalismu­s.

Wir würden Sie abschließe­nd bitten, den folgenden Satz zu vervollstä­ndigen: Für mich ist das etwas Persönlich­es, weil…

Morozov: … ich fast ein Jahrzehnt versucht habe, genau zu verstehen, was den Sozialismu­s als Ideologie ausmacht.

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Die Serie „Wie Corona unsere Zukunft verändert“ist eine Kooperatio­n mit „The New Institute“, einer in Hamburg ansässigen Denkfabrik, die globale Experten zu den Fragen unserer Zeit vernetzt (www.thenew.institute).

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Eine 12‰teilige Serie mit internatio­nalen Experten – in Kooperatio­n mit „The New Institute“
Wie Corona unsere Zukunft verändert Eine 12‰teilige Serie mit internatio­nalen Experten – in Kooperatio­n mit „The New Institute“
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Das Virus und der Kapitalism­us mit
Evgeny Morozov Technik‰ und Politik‰Autor aus Weißrussla­nd; Herausgebe­r des Newsletter­s „The Syllabus“
Heute: Teil 6 Das Virus und der Kapitalism­us mit Evgeny Morozov Technik‰ und Politik‰Autor aus Weißrussla­nd; Herausgebe­r des Newsletter­s „The Syllabus“

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