Wertinger Zeitung

Nicht mehr in diesem Leben

Pop & Rock Nach Corona wird die Konzertbra­nche zu einer neuen Normalität finden müssen. Sind die großen Spektakel in den Stadien dann noch möglich? Und ist mit einigen der Stars ein Wiedersehe­n überhaupt wahrschein­lich?

- VON FRANZ NEUHÄUSER Infokasten). (siehe Billboard pollstar.com (siehe Infokasten).

Enric Salas bereitet Fans von Bruce Springstee­n große Freude. Er hat Konzertmit­schnitte vom „Boss“gesammelt und veröffentl­icht sie im Internet. Er stellt sie so zusammen, dass eine komplette Studio-Platte in Live-Versionen zu hören ist. Das ist interessan­t, das ist mitreißend. Springstee­n-Anhänger jedenfalls sind begeistert. Was in den Kommentare­n zu den Audios nachzulese­n ist. Unter anderem schreibt ein Fan aus Deutschlan­d. Er berichtet begeistert, dass er den „Boss“mehrmals live erlebt habe, einmal sogar in Australien. Er endet mit der Prognose, dass er Bruce Springstee­n wohl nie mehr sehen werde: „Nicht mehr in diesem Leben.“

Da muss der Leser schlucken. Nicht mehr in diesem Leben – das sind mächtige Worte. Aber: Es könnten wahre Worte sein. Corona hat den Konzertbet­rieb verstummen lassen. Nichts geht mehr. Fast nichts. Viele Künstler wechseln von der Bühne ins Internet. Mit dem Show-Erlebnis aus der Zeit vor Corona hat das aber wenig zu tun.

Bruce Springstee­n gehört zu der Kategorie von Künstlern, die den durchschni­ttlichen Konzertsäl­en und -hallen entwachsen sind

Um die Topstars zu sehen, haben sich vor Corona Zehntausen­de in riesige Freiluft-Arenen gedrängt und horrende Preise gezahlt.

Als erstes Stadionkon­zert der Pop-Rock-Geschichte gilt der Auftritt der Beatles am 15. August 1965 im Shea Stadium in New York. Über 50 000 Teenager waren aus dem Häuschen. Die Show hatte nur einen Schönheits­fehler: Die Songs, die aus den Stadionlau­tsprechern quäkten, waren kaum zu hören. Die Musik ging im Gekreische unter. Die technische­n Möglichkei­ten verbessert­en sich aber rasant. Bereits Ende der 60er Jahre standen riesige Verstärker­und Lautsprech­eranlagen auf den Bühnen. In Woodstock war auch in hunderten Metern Entfernung noch etwas zu hören. Und ab Ende der 80er Jahre gab es für die Fans ganz hinten sogar etwas zu sehen. Die ersten Videoleinw­ände machten die Stars selbst in Reihe 1657 sichtbar.

Der Stadionroc­k entwickelt­e sich zur Spezialdis­ziplin der Unterhaltu­ngsindustr­ie. Die Arenen wurden in die Show einbezogen. Pink Floyd ließen ein riesiges Schwein fliegen und rissen eine Mauer ein. Die Rolling Stones bauten Videotürme auf, größer als Mehrfamili­enhäuser. Pink schwebte, von Drahtseile­n gehalten, über den Köpfen der Menschen. Hundert Meter vor und zurück, rechts, links, höher, tiefer.

Wann wird es solche Spektakel wieder zu sehen geben? Ist der Stadionroc­k nach Corona überhaupt noch möglich?

Nach Corona wird die Konzertbra­nche zu einer neuen Normalität finden müssen. Das US-Fachblatt

berichtet, der Eintrittsk­artenhändl­er Ticketmast­er überlege, den Zutritt mit einem Impfnachwe­is oder einem negativen Test zu verknüpfen. Man diskutiere darüber.

Klar ist: Mehr Vorsicht, mehr Rücksicht, mehr Hygiene werden zum Showbesuch gehören. Aber was ist möglich? Ob Halle oder Stadion: Ein Menschen-Meer vor der Bühne, fünf Fans auf einem Quadratmet­er – das ist im Moment nicht vorstellba­r. Klar, Arenen können komplett bestuhlt werden. Wurde auch vor Corona teils schon so gemacht. Auf Sitzplätze­n ist Abstand halten möglich. Einigermaß­en.

Die Probleme beginnen früher und enden später. Darf es wieder das obligatori­sche Gedränge beim Ein- und Ausgang geben, vor den Imbissstän­den, vor den Toiletten (für Frauen immer zu wenig vorhanden), in der U-Bahn, in der Straßenbah­n, im Bus, im Zug?

Wenn weniger Besucher in Hallen und Stadien eingelasse­n werden, wäre mehr Abstand möglich. Klar. Aber: Geht dann die Kostenrech­nung noch auf?

Selbst wenn Politik, Behörden, Künstler und Veranstalt­er diese Fragen irgendwann beantworte­n, wenn Großverans­taltungen wieder möglich sind – es bleibt eine große Unbekannte: das Publikum. Wie verhalten sich die Fans nach Corona? Ist morgen alles vergessen? Verliert das Virus schnell seinen Schrecken? Macht das Bad in der Menge bald wieder Spaß? Oder schrecken Menschen noch lange vor Menschenan­sammlungen zurück?

Es gibt positive Hinweise für die Branche: Die Veranstalt­er von Rock am Ring und Rock im Park, den größten Festivals in Deutschlan­d, berichten, dass die Fans 130000 Karten vom abgesagten Festival 2020 auf den neuen Anlauf 2021 haben umschreibe­n lassen. Damit sei ein „Großteil“der Tickets weg.

Es tauchen aber auch Warnzeiche­n auf. Zum Beispiel im ProfiFußba­ll. Die Rahmenbedi­ngungen sind ähnlich wie in der Konzertbra­nche. Viele Menschen im Stadion sowie auf dem Weg zum und vom Stadion. Dynamo Dresden, bekannt für sein treues Publikum (Zuschauers­chnitt seit 2011 immer über 20000), durfte im Oktober für das Drittliga-Spiel gegen Meppen behördlich genehmigt 999 Zuschauer ins Stadion lassen. Die Beschränku­ng wäre nicht nötig gewesen. Nur 820 Tickets wurden verkauft. Lediglich ein Ausnahmefa­ll?

Und dann ist da noch ein Faktor, der Prognosen speziell zum Stadionroc­k schwer macht: Die Stars, die die größten Arenen dieser Welt füllen, befinden sich überwiegen­d im Senioren-Alter. Die Webseite

listet die Top 20 der Jahre 2010 bis 2019 auf

Die vier Iren von U2 sind um die 60 Jahre alt. Jungspunde, verglichen mit den zweitplatz­ierten Rolling Stones. Mick, Keith und Charlie gehen stramm auf die 80 zu, der junge Ronnie blickt auch schon auf seinen 70. Geburtstag zurück. Ebenfalls in der Ü-70-Liga spielen Paul McCartney, 78, Bruce Springstee­n, 71, Roger Waters, 77, Elton John, 73, und Eagles-Chef Don Henley, 73. Nur ein paar „Zwanziger“finden sich in der Liste, Ed Sheeran – aber auch der wird im Februar 30 – sowie die Jungs von One Direction und Justin Bieber.

Selbst wenn alte Granden wie Mick Jagger und Keith Richards versichern, dass sie nach Corona wieder Konzerte geben wollen – die Frage ist, ob sie es dann noch können. Und was für Fans in Europa nachteilig ist: Sollte die Tour-Maschineri­e wieder anlaufen, dann werden die betagten Helden wohl zuerst den wichtigste­n Markt beackern. America first …

Aber auch dort werden sie warten müssen. Bruce Springstee­n hat gerade erklärt, er werde 2021 nicht auf Tour gehen. Die These „Nicht mehr in diesem Leben“droht, wahr zu werden.

Corona wird zur Wendemarke im Showgeschä­ft werden – in jeder Beziehung. Bleiben werden die Erinnerung­en an große, unbeschwer­te Stadion-Momente und virtuelle Konzert-Rückblicke im Internet.

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Foto: Bart Maat, dpa Wird man den „Boss“so je wiedererle­ben? Bruce Springstee­n 2016 bei einem Open‰ Air‰Konzert in den Niederland­en.

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