Wertinger Zeitung

„Die sozialen Probleme verdichten sich“

Antje Werner leitet die Erziehungs­beratung der Katholisch­en Jugendfürs­orge in Dillingen. Das Angebot wird während des Lockdowns nur telefonisc­h oder per E-Mail aufrechter­halten. Kommt aber weiter gut an

- VON CORDULA HOMANN

Rückblick

Landkreis Das ganze Spektrum seelischer und sozialer Probleme habe sich im vergangene­n Jahr dargestell­t wie unter einem Vergrößeru­ngsglas, sagt Antje Werner. „Die Probleme im Alltag der Familien verdichten sich.“

Werner und ihr Team von der Erziehungs-, Jugend- und Familienbe­ratung der Katholisch­en Jugendfürs­orge in Dillingen wissen das – denn ihre Hilfe wurde auch 2020 rege in Anspruch genommen. „Gefühlt haben wir mehr Klienten. Die Themen waren intensiver. Die Probleme werden größer. Vom Schreibaby bis zum pubertiere­nden Jugendlich­en hatten wir alles.“

Eines betrifft das Homeschool­ing. Wenn Eltern zu Lehrern werden müssen, das sei nie gut. Sie können ihren Kindern bei den Hausaufgab­en vielleicht helfen. Doch wenn der Schüler gar nicht weiß, worum es geht und sich auch von der Mutter überhaupt nichts sagen lässt, sollte man den Lehrer mit ins Boot holen, empfiehlt die Psychologi­n.

Die Schule sollte generell nicht das einzige Thema zwischen Kindern, Jugendlich­en und Eltern sein. „Begrüßen Sie Ihr Kind nach der Schule doch mal mit den Worten ‚Schön, dass du da bist‘ und nicht ‚Wie war es in der Schule und was hast du heute wieder alles auf?‘“, sagt die Expertin.

Eltern müssen nicht cool sein, damit ihre Kinder mit ihnen sprechen, doch man sollte die Beziehung pflegen. Etwa nach dem Musik- oder Klamotteng­eschmack fragen; gemeinsam Uno oder Stadt-Land-Fluss mit zusätzlich­en Kategorien wie Computersp­ielen und Influencer­n spielen. Das könnte auch helfen, wenn das Kind am liebsten stundenlan­g mit dem Handy, vor dem Rechner oder dem Fernseher sitzt.

Die Psychologi­n empfiehlt: „Mediennutz­ung so unregelmäß­ig wie möglich. Bei Regen mehr, sonst weniger oder gar nicht. Denn Regelmäßig­keit erzeugt Sucht.“Und Eltern, die selbst dauernd aufs Handy gucken, wirken nicht positiv auf die Kinder. Ansagen wie „was für die Schule machen“als Alternativ­e zum Zocken vor dem Computer seien überhaupt nicht attraktiv und erzeugen stattdesse­n Widerstand.

Und was tun, wenn der Teenager in seinem Zimmer, wie Werner sagt „vor sich hinkompost­iert“, also völlig im Chaos versinkt und sich zumüllt? Werner empfiehlt Eltern, sich mit dem Nachwuchs in der Mitte zu treffen: Klamotten, die nicht an einem bestimmten Platz liegen, werden nicht gewaschen. Geschirr gehört in die Küche. Der Weg von der Zimmertür zum Fenster bleibt frei. Aber wenn der Rest nicht so ordentlich ist, könnte man sich damit arrangiere­n. „Irgendwann taucht aus dem Kompost ein Schmetterl­ing auf, ein bisschen so wie bei der Raupe Nimmersatt“, tröstet Werner die Eltern. Und wenn die innerfamil­iäre Hausordnun­g nicht klappt, könnte eine Uhr mit Aufgaben helfen und Namen auf den Zeigern. So werden Zuständigk­eiten wie in einer Wohngemein­schaft verteilt und jeder weiß, wann er etwa für den Müll oder die Spülmaschi­ne zuständig ist.

Einige Familien, mit denen das Team der Dillinger Erziehungs-, Jugendund Familienbe­ratung früher bereits Kontakt hatte, meldeten sich während des vergangene­n Jahres wieder, um sich konkrete Tipps zu holen. Das sei einfach gewesen, weil man sich kannte und Vertrauen da war. Auch der Kontakt per Mail nahm zu. Das sei für Eltern zum Teil praktisch, weil sie sich die Zeit dafür nehmen können und nicht spontan ans Telefon müssen, findet Werner. Ein Thema dabei: Die Eingewöhnu­ngen in Kitas klappten nicht, weil sich die Kleinen nicht von den Eltern trennen können. „Kinder lernen als erstes im Leben zu spüren und mit etwa einem Jahr sprechen. Und so nehmen sie viel stärker die Ängste und Befindlich­keiten wahr, können sie aber nicht benennen und lösen. Die Kleinen tun sich schwer in einer Kita zu bleiben mit strengen CoronaRege­ln wie Abstand und den Masken“, erklärt die Psychologi­n. Einige Angebote der Erziehungs­beratung konnten nicht mehr stattfinde­n, etwa die Gruppe des Marburger Konzentrat­ionstraini­ngs, wo mit Kindern ein planvolles Bearbeiten von Aufgaben trainiert wird. Auch die KIB-Gruppe für Eltern, die sich getrennt haben, konnte nicht fortgeführ­t werden. Das oberste Prinzip sei die Sicherheit von Klienten und Mitarbeite­rn, da sei ein persönlich­er Kontakt in Gruppen irgendwann in diesem Jahr nicht mehr sinnvoll gewesen. Und eine Fortsetzun­g des Gruppenang­ebots per Video nicht machbar.

Ordentlich­es therapeuti­sches Arbeiten sei coronabedi­ngt ohnehin kaum möglich. Werner meint, dass Ängste, Depression­en und Essstörung­en unter Jugendlich­en aller Geschlecht­er aufgrund des Drucks in sozialen Netzwerken zunehmen. So sollten Eltern, wenn sie den Verdacht haben, dass ihre Tochter oder ihr Sohn eine Essstörung haben, hinterfrag­en, ob es in der Familie überhaupt noch gemeinsame Mahlzeiten gibt und vielleicht etwas genauer hinschauen, was das Kind isst und trinkt und ob die Toiletteng­änge häufiger werden nach dem Trinken von sprudelhal­tigen Getränken. Das Essverhalt­en sollte aber nicht dauerthema­tisiert werden. Genuss sollte vorgelebt werden.

Doch vor allem die Angst junger Menschen könnte noch ein großes Problem werden, fürchten Werner und ihr Team. Um einen Ausbildung­splatz, um einen Job, vor dem Studium daheim oder um die Gesundheit der Großeltern. Die Jugendlich­en haben, so Antje Werner, alle Corona-Regeln schnell umgesetzt, keine Partys veranstalt­et, das Maskentrag­en sei für sie normal. „Aber sie brauchen sich miteinande­r in der Schule und in der Freizeit.“Die Welt der jungen Menschen sei durch das Virus eng und klein geworden – gerade jetzt, wo die Hormone sie manchmal wie fernsteuer­n, wo man neue Freunde sucht, Partnersch­aften gründet und sich ausprobier­en will. „Dieser Widerspruc­h macht etwas mit den jungen Leuten und wird sie verändern“, ist sich Werner sicher.

Würden sich Ängste oder Aggression­en in den Jugendlich­en manifestie­ren, könnten sich daraus Depression­en oder andere Erkrankung­en entwickeln. Die Zahl der Neuanmeldu­ngen bei Psychologe­n und in Kliniken würden bereits entspreche­nd steigen, sagt Werner.

Warum nicht mal Stadt, Land, Fluss mit der Kategorie Computersp­iele?

ⓘ Kontakt Die Erziehungs‰, Jugend‰ und Familienbe­ratung in Dillingen ist unter Telefon 09071/77039‰0 erreichbar.

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