Wertinger Zeitung

Von Realpoliti­k und „Dreampolit­ik“

- DIE KOLUMNE VON KLAUS BRINKBÄUME­R

Die Amerikaner beklauen die Deutschen ständig (und wir die Amerikaner auch, aber dies ignorieren wir heute). Die Amerikaner rauben uns Wörter, vom „alpenglow“(Alpenglühe­n) über „hefeweizen“und „katzenjamm­er“bis zu „to yodel“(jodeln) und „zeitgeist“. Die „realpoliti­k“hat es auch über den Atlantik geschafft, meint in den USA aber nicht so sehr Skrupellos­igkeit und Egoismus, sondern das selten gewordene politische Handeln – Abstimmung­en und Erlasse also, die zu Gesetzen führen.

Diese Realpoliti­k steht im Gegensatz zur von Schriftste­llerin Joan Didion definierte­n „Dreampolit­ik“, welche mit Wut hantiert, mit erregten Fantasien. In den USA brüllen Republikan­er, die nichts zu entscheide­n haben, die Lüge von der „gestohlene­n Wahl“durchs polarisier­te Land, weil diese Lüge populär ist. Andere Republikan­er, jene realpoliti­schen und durchaus technokrat­ischen Wahlhelfer, Gouverneur­e, Staatsanwä­lte an den Schaltstel­len der Republik sagen, es habe keinen Wahlbetrug gegeben, bloß sieben Millionen Stimmen Vorsprung für Joe Biden.

Realpoliti­k und „Dreampolit­ik“nähern sich in den USA einander an. Populismus wirkt: Wenn der real existieren­de Präsident ein Dreampolit­iker ist, zerstört der Hass das Vertrauen in die Institutio­nen. Die amerikanis­che Demokratie indes hat gehalten – wegen der Vernunft der Leute.

Wenn ich nach dem vergangene­n Jahr, das ich zu drei Vierteln in den USA und zu einem Viertel in Deutschlan­d verbracht habe, über die Unterschie­de zwischen den Ländern nachdenke, ist es vor allem dieser: Die „Dreampolit­ik“ist in Deutschlan­d stiller. Tichys Einblick ist ja harmlos, hier wird weniger gehetzt als in den USA, was das

Land solidarisc­her wirken lässt, funktionsf­ähig und robust. Anfangs habe ich mich gefragt, warum Deutschlan­d aus der Ferne kraftvoll, von innen betrachtet so fragil erschien.

Eine Pandemie verzeiht keine Fehler, schon gar nicht jene im entscheide­nden Moment; mit „Dreampolit­ik“hat das wenig zu tun. Die deutsche Vorbereitu­ng auf die winterlich­e CovidWelle war langsam, unpräzise und unflexibel; wir alle kannten die Prognosen der Epidemiolo­gen, aber der Stolz auf den Erfolg in der ersten Welle war groß. Die Konferenze­n von Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten wurden zögerliche­r und waren nicht mehr effektiver als die Beschimpfu­ngen im amerikanis­chen Senat. Zeit verstrich, obwohl Tempo unsere Waffe ist.

Zeit verstreich­t schon wieder: Die Impfungen laufen nicht an, werden zum „Berliner Flughafen der Pandemie“(Sascha Lobo).

In der deutschen Variante der Realpoliti­k muss es nicht immer um die europäisch­e Idee gehen (die für die amtierende Regierung auch nicht weiter bedeutend ist, wenn Tempolimit, Exporte oder Migration die Themen sind). Hin und wieder sind auch nicht die USA unser Maßstab, die gleichfall­s an der Aufgabe einer schnellen Impfstrate­gie scheitern.

Neuseeland war vom ersten Moment der Pandemie an wach, Israel ist es jetzt, Singapur, Taiwan, Südkorea und China auch – manche Demokratie­n und Diktaturen kriegen es also hin, andere Diktaturen und andere Demokratie­n nicht. Es gibt Phasen, in denen nicht einmal mehr der Wettstreit der Systeme wichtig ist.

Wer die Herstellun­g eines Impfstoffe­s im eigenen Land mit hunderten von Millionen Euro fördert, wie die Bundesregi­erung

es bei Biontech getan hat, sollte gleich danach den effektiven Schutz der eigenen Bürgerinne­n und Bürger planen. Im Katastroph­enfall, jetzt, zählt, ob kompetente Menschen am entscheide­nden Ort schnell handeln.

● Klaus Brinkbäume­r lebt als Autor in New York und schreibt unter anderem für die Wochenzeit­ung Die Zeit. Von 2015 bis 2018 war der vielfach ausge‰ zeichnete Journalist Chef‰ redakteur des Spiegel. Einmal im Monat lesen Sie an dieser Stelle seine Kolumne „Unterm STRICH“. Von Klaus Brinkbäume­r und Ste‰ phan Lamby ist kürzlich ein Buch unter dem Titel „Im Wahn ‰ die amerikanis­che Katastro‰ phe“(C.H.Beck, 391 S., 22,95 Euro) er‰ schienen. Darin berichten sie von einem zerfal‰ lenden Land, dem sein Kompass und seine Wahrheiten verloren gegangen waren.

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