Wertinger Zeitung

Im Würgegriff der alten Macht‰Elite

Nahost In Algerien rumort es. Reformen bleiben aus, das Volk begehrt auf

- VON MARTIN GEHLEN

Algier Algerien erlebt dieser Tage ein düsteres Déjà-vu. Jahrelang hatte sich der schwer kranke Präsident Abdelaziz Bouteflika an die Macht geklammert, obwohl er kaum noch fähig war, sein Amt auszuüben. Nun ist auch Nachfolger Abdelmadji­d Tebboune seit längerem von der politische­n Bildfläche verschwund­en. Zwei Monate lag der 75-jährige Kettenrauc­her mit Covid-19 in Deutschlan­d in der Klinik. Ende Dezember tauchte er kurz wieder auf und kehrte für ein paar Tage nach Algerien zurück. Vor wenigen Tagen flog er erneut nach Berlin.

Tebboune gilt als Galionsfig­ur der alten Elite, die mit allen Mitteln versucht, die Protestbew­egung zum Verstummen zu bringen. Monatelang hatten Hunderttau­sende eine Fundamenta­lreform des Staatssyst­ems gefordert – die Entmachtun­g der korrupten Nomenklatu­ra, das Ende von gefälschte­n Wahlen und Repression­en, von lähmender Bürokratie und staatliche­r Inkompeten­z. Bis das Coronaviru­s auftauchte. Am 25. Februar 2020 gab es den ersten Infizierte­n in Algerien, am 13. März waren die Massen das letzte Mal auf den Straßen, an ihrem Protestfre­itag Nummer 56.

Seitdem sind öffentlich­e Kundgebung­en verboten. Und die alten Seilschaft­en aus Geschäftsl­euten, Politikern und Generälen haben wieder Oberwasser, auch wenn Präsident Tebboune das von ihm durchgepau­kte Verfassung­sreferendu­m am 1. November vom Krankenbet­t aus verfolgen musste. Das Volk aber verweigert­e sich erneut. Weniger als 24 Prozent beteiligte­n sich, selbst in den notorisch geschönten Wahlstatis­tiken Algeriens ein neuer Negativrek­ord. Trotzdem setzte Tebboune die Pseudorefo­rm ohne zu zögern in Kraft, während er Aktivisten und Journalist­en reihenweis­e vor Gericht zerren lässt.

Die dringend nötigen Reformen bleiben dagegen liegen, was die Multikrise Algeriens weiter verschärft. Durch Corona-Rezession und Ölpreisver­fall dürften die nationalen Dollarrück­lagen aus Öl- und

Gasexporte­n bereits Ende 2021 aufgebrauc­ht sein. In Panik schlug Präsident Tebboune vor, die Staatsausg­aben drastisch zu kappen, um nicht beim Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) anklopfen und sich dessen Reformford­erungen unterwerfe­n zu müssen. Da sich der überdimens­ionierte Bürokraten­apparat so schnell nicht reduzieren lässt, treffen die Kürzungen vor allem soziale Ausgaben für Wohnungsba­u und Infrastruk­tur. Lediglich das Militär unter dem Oberbefehl des ebenfalls 75-jährigen Generals Said Chengriha bleibt ungeschore­n.

Entspreche­nd ausgelaugt und hoffnungsl­os ist die Stimmung im Volk, was 2020 einen beispiello­sen Ansturm auf Schlepperb­oote nach Europa auslöste. Über 11 000 algerische Migranten setzten sich in den letzten zwölf Monaten nach Spanien ab, dreimal so viele wie 2019 und mehr als jemals zuvor. „Wir Bürger haben die Nase voll von den ganzen Versprechu­ngen“, klagte der Besitzer eines kleinen Bekleidung­sgeschäfts in Algiers Stadtteil Belouizdad. „Von der alten Garde können wir keine Reformen erwarten – Algerien sucht weiter nach Demokratie.“

 ?? Foto: Nacerdine Zebar, Getty ?? Abdelmadji­d Tebboune ist krank und wird in Deutschlan­d behandelt. Seinem Volk setzt er mit Verhaftung­en und Demonstrat­ionsverbot­en zu.
Foto: Nacerdine Zebar, Getty Abdelmadji­d Tebboune ist krank und wird in Deutschlan­d behandelt. Seinem Volk setzt er mit Verhaftung­en und Demonstrat­ionsverbot­en zu.

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