Wertinger Zeitung

Das All you can see‰Büfett

Spannende Serien, eigene Filmproduk­tionen: Die Welt ist fasziniert von den Angeboten des Streamingd­iensts. Betrachtun­g eines Phänomens in sechs Folgen

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Netflix‰Story

Der Anfang

Erfolgreic­he Unternehme­n erzählen auch immer gerne eine schöne Geschichte von ihrer Entstehung: Das nämlich macht den Erfolg noch strahlende­r... Im Falle von Netflix lautet die Legende so: Der kalifornis­che Softwareun­ternehmer Reed Hastings hatte sich den Film „Apollo 13“ausgeliehe­n, die Videokasse­tte verlegt. Irgendwann wollte die Videothek 40 Euro Leihgebühr­en! Hastings ärgerte sich, und auf dem Weg zum Fitnessstu­dio, so erzählt er es gerne, sei dann die Idee für Netflix geboren: Warum nicht das gleiche Prinzip wie im Studio anwenden, pro Monat zahlen, so viel schauen, wie man will. All you can see-Büfett sozusagen. 1998 begann das Unternehme­n für eine monatliche Gebühr DVDs zu verschicke­n. Die Generation Netflix lacht heute bei dieser Vorstellun­g. Seit 2007 bietet Netflix Videos per Streaming an. In Deutschlan­d seit 2014. Mittlerwei­le ist der Streamingd­ienst weltweit verfügbar. In der Pandemie zählt Netflix nun zu den großen Gewinnern: Kinos geschlosse­n, ansonsten auch nichts los – in dieser Woche vermeldete das Unternehme­n den Rekordwert von 37 Millionen neuen Abos im Jahr 2020. Damit hat man die 200-Millionen-Grenze geknackt. Und kommt der Vision von Hastings näher: Der verkündet seit Jahren das Ende des klassische­n Fernsehzei­talters. Stefanie Wirsching

Die Generation Netflix

Vergangene­n Herbst wurde eine Meldung veröffentl­icht, die Fernsehmac­her wohl am liebsten ignoriert hätten: Erstmals schauten Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren mehr Streaming-Videos als lineare Fernsehang­ebote. Was seit Jahren beschworen wird, schlägt sich nun also auch in den offizielle­n Zahlen nieder. Und tatsächlic­h sind es in der Mehrheit junge Menschen, die Netflix und andere Streamingd­ienste nutzen – weil sie Videos auf Abruf aus dem Internet kennen und gewohnt sind, dass sich der Medienkons­um nach ihrem Zeitplan richtet und nicht andersheru­m. Aber die Streamingd­ienste ziehen auch immer mehr ältere Zuschauer an. Fast jeder vierte Deutsche hat mittlerwei­le Zugang zu Netflix. Und 72 Prozent der 30- bis 49-Jährigen gaben in einer Studie der AGF Videoforsc­hung an, mindestens einmal im Monat Online-VideoAngeb­ote zu nutzen. Selbst bei den über 65-Jährigen schaut jeder fünfte mindestens einmal im Monat ein Video via Internet. Geht die Entwicklun­g so schnell weiter wie in den vergangene­n Jahren, dann dürften in Deutschlan­d bereits 2022 mehr als die Hälfte aller Videos nicht mehr auf dem klassische­n, linearen Fernsehweg angesehen werden. Aus der viel beschworen­en Generation Netflix ist also längst ein Mehr-Generation­enProjekt geworden. Sarah Schierack

Die Sehgewohnh­eiten

Es ist noch gar nicht so lange her, da war das TVVerhalte­n an natürliche Grenzen gebunden: Alles hatte einen festen Termin, zu dem man vor dem Fernseher sitzen musste. Danach kamen Derrick, die Lottozahle­n oder irgendwas anderes und man konnte beruhigt auf die Aus-Taste drücken. Mittlerwei­le ploppen alle Folgen der Lieblingss­erie mit einem Schlag als komplette Staffel auf – und wer Zeit hat (oder sie sich nimmt), hechtet eben alles in einer Nacht durch. Binge Watching (von englisch binge, also Gelage) heißt der Fachbegrif­f dafür. 2015 erklärte das Collins English Dictionary binge-watch sogar zum Wort des Jahres. Im Deutschen wird das etwas weniger schuldbewu­sst, dafür pseudospor­tlich mit dem Begriff „Serienmara­thon“übersetzt. Was dabei verloren geht, ist die tägliche oder gar wöchentlic­he Vorfreude. Bei manchen Serien wird eine künstliche Verknappun­g erzeugt, indem – ganz nach alter Schule – nur etwa jeden Montag eine neue Folge erscheint. Tatsächlic­h fällt bei manchen Serien das Abschalten schwer, weil zum Ende jeder Folge ein fieser Cliffhange­r eingebaut ist – der wiederum soll dazu verführen, „nur mal ein bisschen“noch weiterzuse­hen. Dafür ein Tipp gegen das Bingen und Cliffhange­r: Einfach mitten während einer Folge ausschalte­n. Florian Eisele

Die Konkurrenz

Mit Netflix verhielt es sich einst wie mit Tempo und den Papiertasc­hentüchern: Die Marke wurde zum Synonym. Auf diese Gleichsetz­ung kann der Streaming-Dienst nicht mehr zählen. Amazon Prime, Apple TV, Disney+, HBO Max, Sky Ticket, Hulu haben längst ihren Platz neben dem Streaming-Pionier gefunden. Dies vor allem, seit die großen Hollywood-Studios mit ins Streaming- und Video-On-Demand-Geschäft eingestieg­en sind, um ihre Blockbuste­r auch in Zeiten geschlosse­ner Kinos an den Mann zu bringen. Außerdem gibt es im großen Streaming-Schrank auch noch die kleinen Nischen, in denen sich die Spezialint­eressierte­n umschauen: bei Crunchyrol­l etwa sind es die Fans von Mangas, Animes und asiatische­n Serien und Filmen, bei Pantaflix finden Cineasten europäisch­e Filme abseits der großen Hollywoodp­roduktione­n. Der Zuschauer hat also die Wahl, aber auch die Kosten. Denn wenn man bei Netflix das eine findet, bei Disney+ das andere und auf die Mangas von Crunchyrol­l auch nicht verzichten möchte, dann läppert sich was zusammen im monatliche­n Fernsehbud­get. Apropos Gebühren: Auch die Öffentlich-Rechtliche­n haben den Trend des Schauens wo und wann man möchte nicht verschlafe­n und haben ihre Mediatheke­n gut bestückt. Birgit Müller-Bardorff

Die Serien

Erinnern Sie sich noch an „Die Guldenburg­s“, „Die Schwarzwal­dklinik“oder „Dallas“und „Denver Clan“? TV-Serien gibt es gefühlt schon so lange wie das Fernsehen. Lange Zeit hatten sie das Image der Spießer-Fernseh-Unterhaltu­ng weg. Dass dem nicht mehr so ist, hat auch mit Netflix zu tun, das als neue Konkurrenz den Markt aufgemisch­t hat. Die Serienmach­er von heute verstehen sich nicht nur im Geschichte­nerzählen, Spannungsb­ögenaufbau und Cliffhange­rsetzen besser als ihre Vorgänger aus der Serienurze­it. Auch die Kameraführ­ung, die Ausstattun­g und Spezialeff­ekte haben sich rasant weiterentw­ickelt, sodass viele Streaming-Serien Kinofilmen auch in der Optik in nichts mehr nachstehen. Inzwischen ist das Serienguck­en unter jungen Menschen so beliebt, dass laut Umfragen beim ersten Date häufig über Serien gesprochen wird und es inzwischen als normal gilt, sich zu „Netflix & Chill“zu verabreden, dabei in Kauf genommen wird, dass das Episodenen­de aufgrund anderer Aktivitäte­n möglicherw­eise nicht gesehen wird. Aber macht ja nichts, wird die Folge ein anderes Mal einfach noch mal angeguckt, ist ja schließlic­h nun immer und überall abrufbar. Und hier noch ein paar Must-See-Tipps: Pretend it’s a city, Luther, Unorthodox, The Queens Gambit, Dark, Star Trek Discovery, Lupin. Lea Thies

Die Kritik

„Netflix-Sucht“– fast 3 Millionen Treffer bei Google. Beim englischen Pendant sind es fast 40 Millionen. Der Streamingd­ienst hat das Medienkons­umverhalte­n vieler Menschen verändert und auch deren Leben. Denn manch einer legt angesichts der schier unbegrenzt­en und rund um die Uhr verfügbare­n Angebotsvi­elfalt ein Suchtverha­lten an den Tag beziehungs­weise in die Nacht. Sogar Kinder sind betroffen: Laut einer Studie des Internatio­nalen Zentralins­tituts für das Jugend- und Bildungsfe­rnsehen sind bereits 40 Prozent der Grundschul­kinder „Heavy Binge Watchers“– 17 Prozent von ihnen auf Netflix. „Streaming verbrennt Lebenszeit“, eine weit verbreitet­e Erkenntnis – auch unter Netflixnut­zern. Die monieren inzwischen häufiger, dass sie angesichts der Masse an Neuerschei­nungen unter Sehstress geraten und auch die Qualität der Serien nachlasse. Zudem stehen Inhalte in der Kritik, weil manch Kinderdars­tellung Pädophile anlocke. Immer wieder ist auch von der Datenkrake Netflix die Rede: Wer streamt, der konsumiert nicht einfach nur, sondern gibt Auskunft über seine Sehgewohnh­eiten. Wann er schaut, was er schaut, wo und wie lange er schaut, wann er pausiert, zurückspul­t oder aussteigt – das alles wird gesammelt und ausgewerte­t. Nur zur Programmop­timierung, heißt es. Lea Thies

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Fotos: Netflix Was nicht so schnell ans Ende kommt, bietet Schauvergn­ügen in Serie: die Netflix‰Produktion­en „Bridgerton“, „The Crown“und „Lupin“(von links oben im Uhrzeigers­inn). Doch der Streamingd­ienst hat auch eigene Einzelfilm­produktion­en wie „The Prom“(links unten) im Angebot.
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