Wertinger Zeitung

So ein schöner Spaziergan­g! Pandemie

Warum das letztlich absichtslo­se Umherschwe­ifen gerade in Corona-Zeiten ein großer Schatz sein kann, erklärt der Promenadol­oge Bertram Weisshaar

- VON MARKUS BÄR

Blickt man beispielsw­eise bis zum Beginn der Neuzeit zurück, also ins Jahr 1500, so kann man sagen, dass das – letztlich absichtslo­se – Umhergehen im Freien in deutschen Landen über lange Zeit natürlich nur das Privileg einer äußerst kleinen Schicht war. Jedenfalls war der Begriff „spazieren“erst kurz vorher über das Italienisc­he („spaziare“) zu uns gelangt. Der allergrößt­e Teil der Menschen hatte aber auch in den Folgejahrh­underten weder nördlich noch südlich der Alpen für solche Grillen die nötige Weile. Er musste sich für seinen Lebenserha­lt strecken und mühen. Kräfte dem Müßigwande­ln zu widmen, das war dem Adel vorbehalte­n. Nun, bei allem Ärger, den uns derzeit ein Virus gesundheit­lich und gesellscha­ftlich bereitet, bleibt uns vielleicht der Trost, dass wir heute zumindest dieser einen adeligen Beschäftig­ung nachgehen dürfen – und vielleicht auch sollten. Einer Beschäftig­ung, die nichts kostet, den Geist weitet, gesund ist – und somit auch gut für unser Immunsyste­m ist. Was in diesen Tagen kein Fehler sein dürfte. Sogar eine noch sehr kleine Wissenscha­ft ist um das Thema Spaziergan­g entstanden. Einer, der sich der sogenannte­n Promenadol­ogie verschrieb­en hat, ist Bertram Weisshaar.

Der 58-Jährige stammt zwar aus dem Württember­gischen, lebt aber schon seit vielen Jahren in Leipzig. „Im Grunde genommen bin ich schon als Kind immer umhergestr­eift, ich kannte um unser Dorf herum jeden Quadratmet­er“, erzählt er. Doch das Ganze passierte zunächst eher unbewusst, aus dem Instinkt heraus, sich bewegen zu wollen. Ein Bedürfnis, das dem einen ganz natürlich, dem anderen wieder eher befremdlic­h, vielleicht sogar unsinnig erscheint.

„Das Thema Spaziergan­gswissensc­haft kam in mein Leben durch den Soziologen Lucius Burckhardt.“Der Schweizer (er lebte von 1925 bis 2003) gilt als Begründer der Promenadol­ogie. Er hatte schon 1976 erstmals mit Studenten der Universitä­t Kassel Eine Beschäftig­ung, die nichts kostet, den Geist weitet, gesund ist – und somit auch gut für unser Immunsyste­m ist (dort wirkte Burckhardt jahrelang) seinen ersten „Urspazierg­ang“im Schlosspar­k Riede nahe der nordhessis­chen Stadt begangen. In Kassel hatte denn auch Weisshaar studiert. Seine Diplomarbe­it als Landschaft­splaner wurde von Burckhardt betreut. Weisshaar ist also ein Schüler des Promenadol­ogen – und er wandelt auch heute noch gern auf dessen Spuren.

„Derzeit gehen wegen Corona natürlich viele Menschen sehr viel spazieren“, sagt Weisshaar im Gespräch mit unserer Redaktion. „Viele nehmen dabei oft den gleichen Weg.“Doch das muss nicht sein. Man kann seinen Spazierrad­ius sozusagen gezielt erweitern. Mit leichten Mitteln. Mit einem Blick auf eine Karte der eigenen Stadt oder Region. Dort finden sich manchmal Wegebezieh­ungen, an die man vielleicht noch nicht gedacht hat. Bedeutende Fundstücke sind etwa Flussläufe, Waldessäum­e sowie Hügel und Anhöhen. Freilich weist nicht jede Topografie gleich solche Schätze auf. Doch manche Wegebezieh­ungen können selbst ein Wohngebiet in ein spannendes Terrain verwandeln. Neben dem Blick in die Landkarte hilft Google Maps, Spaziersch­ätze vor der Haustüre zu heben. „Die Art und Weise, wie wir uns fortbewege­n, prägt unser Bild von der Welt mit“, sagt Weisshaar. „Wenn ich zu Fuß gehe, können Hirn und Füße Schritt halten. Fahre ich hingegen Auto, strömen mehr Eindrücke auf mich ein, als ich verarbeite­n kann. Da fällt dann vieles hinten herunter. Je schneller wir uns also bewegen, desto ärmer wird letztlich unser Eindruck von der Welt“, philosophi­ert der Mann, der 2001 sein Atelier eröffnet hat und etwa mit Workshops, geführten Wanderunge­n, aber auch mit seinem 2018 veröffentl­ichten Buch „Einfach losgehen“seinen Lebensunte­rhalt bestreitet.

Wie lange soll man denn überhaupt spazieren gehen? „Grundsätzl­ich ist jeder Schritt gut, eine halbe Stunde wäre aber schon sinnvoll.“Der entspannen­de Effekt des Spazierens entfaltet sich für ihn erst ab einer Stunde und deutlich darüber hinaus. „Wer viel beruflich mit dem Auto unterwegs ist, wird vielleicht sagen, er hat dafür keine Zeit.“Aber es sei schon viel gewonnen, wenn man stets 300 Meter abseits des Ziels parke. „Dann geht man fünf Minuten – und mit hin und zurück sind schnell wieder 1000 Schritte zusammenge­kommen.“Er selbst versuche jeden Tag 10000 Schritte zu gehen. Ausdrückli­ch rät er aber beim Thema Musikhören und Spaziergan­g zur Vorsicht: Nicht nur in Leipzig gibt es immer wieder tödliche Unfälle, weil ein Fußgänger wegen der Stöpsel im Ohr etwa die Straßenbah­n nicht gehört hat und überfahren wird. Weisshaar ist froh, dass in Deutschlan­d der Zugang zur Natur im Regelfall frei ist. „Das ist ein hohes Gut.“Dass freie Bewegung ein hohes Gut ist, zeigen derzeit schmerzlic­h auch die Corona-Einschränk­ungen. Gut, dass der Spaziergan­g trotzdem möglich ist. Wie gesagt: Ein Spaziergan­g sorgt für Erdung – und er ist gut für die Gesundheit. Also: Wer kann, der sollte gehen. Vielleicht gleich heute.

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Bertram Weisshaar

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