Wertinger Zeitung

Isabel Allende plaudert über Emanzipati­on

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der lesenswert­esten Bücher des Jahres gestellt, Star-Autorin Zadie Smith schwärmt von Jia Tolentinos „beneidensw­erten Stil“. Nun ist das Buch auch auf Deutsch erschienen. Der Titel (übersetzt eigentlich: Trickspieg­el) ist derselbe wie im Original, der Untertitel ein anderer: Aus „Nachdenken über die Selbsttäus­chung“wurde die schwächere Zeile: „Über das inszeniert­e Ich“.

Die Tochter philippini­scher Einwandere­r, die in Houston/Texas aufwuchs und inzwischen für den New Yorker schreibt, legt in „Trick Mirror“ihren Finger in eine klaffende Wunde und rührt ordentlich darin herum. Sie befasst sich mit dem Schein und Sein im Internet, wie sich das weltweite Netz von einer anfangs gute Erfindung in einen Albtraum verwandelt­e, in dem die Nutzer zu Laborratte­n in einem weltweiten Experiment wurden, nach Perfektion und Anerkennun­g streben und längst die Kontrolle darüber verloren hätten, wie sehr sie durch Algorithme­n

Dudenverla­g, 128 Seiten, 12 Euro

„Was Frauen wollen“, glaubt Isabel Allende genau zu wissen – so verheißt es der Titel ihres Buches. Und die chilenisch­e Erfolgsaut­orin („Das Geisterhau­s“) war in ihrer Erinnerung schon im Kindergart­en Feministin. Der Vater hatte die Mutter sitzen lassen und Isabel begriff früh, dass sie gegenüber den Männern der Familie benachteil­igt war. Schließlic­h war Chile „Lichtjahre entfernt von der Frauenbewe­gung in Europa und den USA“. Auch sie selbst hat früh geheiratet und Kinder bekommen – ganz traditione­ll. Doch die Mitarbeit in einer frauenbewe­gten Zeitschrif­t hielt ihren Zorn gegen den lateinamer­ikanischen Machismo wach: „Wir schrieben mit dem Messer zwischen den Zähnen.“Aber an Männern, so schreibt Isabel Allende, hat es ihr in ihrem bewegten Leben nie gemangelt. Und ihre Enkel halten sie auf dem Laufenden, was Phänomene wie Genderspra­che und Polyamorie angehen. „In meiner Jugend nannte man das freie Liebe“, schreibt die 79-Jährige, sie selbst aber sei „heillos heterosexu­ell“und „hoffnungsl­os romantisch“.

Allende prangert zwar auch an: Abtreibung weiblicher Föten in Indien und China, Genitalver­stümmelung in Afrika, Vergewalti­gung und Menschenha­ndel in aller Welt… Fragt: „Wieso wird der Gewalt gegen Frauen nicht der Krieg erklärt?“Und ermuntert, in der Corona-Zeit nachzudenk­en, was für eine Welt wir wollen. Ihr Buch aber ist vor allem eine Plauderei zum Thema Gleichbere­chtigung, keine Kampfansag­e. Lilo Solcher

und Internetba­upläne manipulier­t werden. Das Internet sei ein Ökosystem, das auf der Ausbeutung von Aufmerksam­keit und der Monetarisi­erung des Ichs basiert, schreibt Jia Tolentino. Das Selbstsein sei die letzte natürliche Ressource des Kapitalism­us geworden. Und das Filtern der Inhalte durch Social Media führe zum Ende einer gemeinsame­n Gesellscha­ftlichen Realität.

Das sind alles keine neuen Gedanken, die Art der Aufbereitu­ng des Problems ist jedoch herausrage­nd. Jia Tolentinos spickt ihre Essays mit persönlich­en Noten und Anekdoten, setzt sich als Intellektu­elle auch mit Thesen anderer Autoren und Wissenscha­ftler auseinande­r. Aber. Sie zeigt auch, wie hin- und hergerisse­n, ja, wie verwirrt sie ist. Das sei auch der Grund, weshalb sie das Buch geschriebe­n habe, um klarer sehen zu können, sagt die 32-Jährige. Tolentino weiß genau, dass sie von dem, was sie da kritisiert, selbst massiv profitiert. Sie hadert. Sie versuche zwar, ihre Internetze­it durch Zeitschalt-Apps zu kontrollie­ren – aber dennoch postet sie Bilder ihres Kindes auf Instagram. Dieser Doppelmora­l ist sie sich bewusst, kennt aber auch keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Man könne sich dem Internet gar nicht entziehen, weil es keinen BackstageB­ereich gebe und das Internet längst die analoge Welt präge. Abschalten ist also keine Lösung.

„Trick Mirror“ist eine erschrecke­nde, vielleicht gar wachrüttel­nde Lektüre, ein Must-Have, besser ein Must-Read für alle mit Social-Media-Konto und damit aktivem Part des Wahnsinns. „Dem haben wir nichts entgegenzu­setzen als unsere Versuche im Kleinen, uns unsere Menschlich­keit zu bewahren, nach einem Modell echter Persönlich­keit zu handeln, einem, das Schuldfähi­gkeit, Unbeständi­gkeit und Bedeutungs­losigkeit zulässt“, schreibt Tolentino. Aber. Ihr Buch ist ein Beitrag zum Widerstand. Lea Thies

Jia Tolentino: Trick Mirror

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A.d. Engl. von Margarita Ruppel, S. Fischer, 368 Seiten, 22 Euro

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