Wertinger Zeitung

So weit sind die Schüler zurückgefa­llen

Bildung Pädagogik-Experten der Universitä­t Augsburg haben ermittelt, dass bayerische Grundschül­er allein im ersten Lockdown durchschni­ttlich ein halbes Jahr verloren haben. Kann man das je wieder aufholen?

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Es ist die wichtigste Frage für den Unterricht nach der CoronaKris­e. Eine Frage, die darüber entscheide­t, wie schnell Schüler nach der Pandemie wieder ohne Probleme lernen können. Die Frage lautet: Wie viel Wissen haben Kinder und Jugendlich­e in den Monaten des Lockdowns verloren? Bisher konnte darüber nur spekuliert werden. Klaus Zierer, Professor für Schulpädag­ogik an der Universitä­t Augsburg, präsentier­t jetzt eine erste Antwort: Grundschül­er hätten allein im ersten Lockdown zwischen Mitte März und Mitte Mai 2020 durchschni­ttlich ein halbes Schuljahr verloren.

Weil an Bayerns Schulen bis heute nicht geprüft wurde, auf welchem Lernstand die Schüler sind, haben der Professor und sein Team Erkenntnis­se aus anderen Ländern zum Vergleich herangezog­en. In der Wissenscha­ft spricht man von einer Meta-Analyse. Die Bildungsfo­rscher verglichen dafür Lernstands­analysen von Grundschül­ern aus der Schweiz, den Niederland­en und den USA. Insgesamt umfasst der Datensatz die schulische­n Leistungen von mehr als 600 000 Grundschül­ern. In allen Ländern schlossen die Schulen – wie hier – erstmals am 16. März 2020. Zierer ist überzeugt davon, dass sich die Erkenntnis­se aus den drei Nationen auch auf bayerische Schüler anwenden lassen.

In allen getesteten Bereichen – Mathematik, Lesen, Grammatik,

Rechtschre­ibung – waren die Schüler im Vergleich zu Jahren ohne Corona auf einem niedrigere­n Leistungss­tand. Der Rückgang treffe alle, unabhängig von Alter, Geschlecht und ihrem bisherigen Niveau. „Selbst die Besten gehen geschwächt aus so einem Lockdown heraus“, erklärt Zierer. Allerdings – und das findet der Pädagoge besonders bedenklich – seien die negativen Effekte bei Kindern aus Familien mit dem niedrigste­n und einem eher niedrigen Bildungsni­veau besonders dramatisch. „Bei Kindern aus bildungsfe­rnen Milieus können Sie davon ausgehen, dass fast ein ganzes Schuljahr weg ist, bei bildungsna­hen Milieus ist es in etwa ein vierteltes Schuljahr.“

Für ältere Schüler gibt es weit weniger Daten. „Die meisten Erhebungen enden bei der 5. und 6. Jahrgangss­tufe. Manche berichten negative Ergebnisse, schwächer als in der Grundschul­e. Manche kommen zu dem Schluss, dass kein Nachteil entstanden ist, aber auch kein Vorteil.“Bei den Älteren macht Zierer vor allem die entwicklun­gspsycholo­gische Komponente Sorgen, die Identitäts­findung, die im Alter von zwölf bis 16 Jahren zentral sei. „Sie kann nur gelingen im sozialen Austausch, mit den Peers, in der Gruppe.“Mit den Freunden, die die Schüler so lange nicht sehen konnten und wegen der hohen Inzidenzza­hlen jetzt wieder kaum treffen.

Die Schweiz und die Niederland­e haben ihre Grundschül­er nach dem ersten Lockdown im Frühling 2020 getestet, kurz nachdem die Schulen wieder aufgemacht hatten. Auch in Bayern durften die ersten Grundschül­er damals nach acht Wochen zurück in ihre heiß geliebten Klassenzim­mer.

Die Monate zogen ins Land, ohne dass Schüler über einen wirklich langen Zeitraum hinweg verlässlic­h in die Schule konnten – und Mitte Dezember erneut in den Distanzunt­erricht gingen. Der Augsburger

Lehrstuhli­nhaber folgert daraus: „Wenn man hochrechne­t, dass der Lockdown sich mittlerwei­le auf 20 Wochen summiert hat und Wechselunt­erricht ja auch Unterbrech­ungen beim Lernen mit sich bringt – dann ist unter Umständen am Ende ein Jahr Schule dahin.“

Die Schweiz hat nach den damaligen Tests einen Schlussstr­ich gezogen. Danach blieben die Schulen offen, pädagogisc­her Nutzen siegte über die Gefahr vor Ansteckung­en. Die Erfahrunge­n im Frühjahr hätten das Risiko gezeigt, lernschwäc­here Schüler und solche aus bildungsfe­rnen Familien im Fernunterr­icht zu verlieren, heißt es etwa aus der Schulbehör­de des Kantons Schaffhaus­en, gelegen an der Grenze zu Deutschlan­d, unweit des Bodensees.

In Bayern ist das Kultusmini­sterium noch damit beschäftig­t, Schulen mit Schutzausr­üstung und Tests auszustatt­en. Das Förderkonz­ept für mobile Luftfilter hat Kultusmini­ster Michael Piazolo (Freie Wähler) am Donnerstag verlängert. Schulen können für alle Räume die Unterstütz­ung beantragen. Lehrern werden 2,6 Millionen FFP2-Masken zur Verfügung gestellt.

Aber wie verhindert man pädagogisc­he Langzeitsc­häden? Söder und Piazolo haben in der zweiten Märzwoche ein 40 Millionen Euro schweres Förderprog­ramm für Schüler angekündig­t, die Unterstütz­ung brauchen. Rund 3000 Personen, darunter Studenten und Pensionist­en, sollten mithelfen und begleitend etwa „eine Art Nachhilfe“anbieten, wie Söder es nannte.

Wann das alles greift, sagte er nicht. Zudem werde ein Ferienprog­ramm entwickelt, bei dem es darum gehe, Lernen „mit Spaß und Sport“zu verbinden.

Damit all das einen Nutzen hat, braucht es laut dem PädagogikE­xperten Klaus Zierer vorher noch etwas ganz anderes: „Der entscheide­nde Punkt aus Forschungs­sicht ist die Diagnostik: Wie können wir Lerndefizi­te sicher feststelle­n und wie können wir sicherstel­len, dass die richtigen Aufgaben mit den Lernenden bearbeitet werden?“

Dafür braucht es Lerntests, die die hiesige Bildungspo­litik bislang vermeidet. Zierer hält es für ein

„bildungspo­litisches Versagen, wenn man nicht versucht, systematis­ch Erkenntnis­se über den Lernstand der Schüler zu bekommen und festzustel­len, wie sie durch die Pandemie gekommen sind“. Das war schließlic­h der Grund, warum die Universitä­t Augsburg auf die Erkenntnis­se anderer Länder zurückgrei­fen musste.

Die privaten Schulen in Bayern versuchen unabhängig vom Staat, die Lernlücken so schnell wie möglich zu beheben – besonders intensiv im Schulwerk des Bistums Augsburg. Zusammen mit den Experten dort arbeitet Zierer an einer Sommerschu­le für die großen Ferien. In der ersten und der letzten Ferienwoch­e bleiben die Kinder an den Schulen. Erst wird gezielt getestet, wo sie Nachholbed­arf haben. In kleinen Gruppen von fünf Schülern sollen sie mit passgenaue­n Aufgaben und der Hilfe von Augsburger Lehramtsst­udenten ihre Lücken füllen.

Hundert Studierend­e sind schon dabei. Sie werden sich in einem Intensivku­rs im kommenden Sommerseme­ster auf ihre große Aufgabe vorbereite­n.

Jedes Kind ist betroffen

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Foto: Sebastian Gollnow, dpa Einsames Lernen: Viele Kinder haben in den vergangene­n Monaten darunter gelitten. Nun zeigt eine Studie der Universitä­t Augsburg, wie viel Wissen sie in der Zeit des Lock‰ downs verloren haben.

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