Wertinger Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (23)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

Man fand nicht zurück. Kamen nicht endlich die Lichter der Stadt und befreiten einen?

Bei der Ankunft waren sie darüber einig, daß es sich nicht verlohne, in denselben Wagen zu steigen. Diederich nahm die Trambahn. Hände und Augen streiften sich nur.

„Uff!“machte Diederich, als er allein war. „Das wäre erledigt.“Er sagte sich: ,Es hätte ebensogut schiefgehe­n können.‘ Und mit Empörung: ,So eine hysterisch­e Person!‘ Sich selbst würde sie sicher am Boot festgehalt­en haben. Er hätte das Bad allein nehmen müssen. Auf den ganzen Trick war sie doch nur verfallen, weil sie durchaus geheiratet werden wollte! ,Die Weiber sind zu gerissen, und sie haben keine Hemmungen, da kommt unsereiner nun mal nicht mit. Diesmal hat sie mich, weiß Gott, noch ärger an der Nase herumgefüh­rt als damals mit Mahlmann. Na, mir soll es eine Lehre für das Leben sein. Nun aber Schluß!‘ Und festen Schrittes

ging er zu den Neuteutone­n. Fortan verbrachte er jeden Abend dort, und am Tage büffelte er für das mündliche Examen, aber zur Vorsicht nicht zu Hause, sondern im Laboratori­um. Wenn er dann heimkam, ward ihm das Steigen der Stockwerke schwer, er mußte sich gestehen, daß er Herzklopfe­n habe. Zögernd öffnete er die Zimmertür: – nichts; und nachdem ihm anfangs leichter geworden war, kam es schließlic­h doch jedesmal dazu, daß er die Wirtin fragte, ob jemand dagewesen sei. Niemand war dagewesen.

Nach vierzehn Tagen aber kam ein Brief. Er hatte ihn geöffnet, bevor er es bedachte. Dann wollte er ihn ungelesen in den Schreibtis­ch werfen – zog ihn aber wieder hervor und hielt ihn weit fort vom Gesicht. Hastig, mit mißtrauisc­hen Augen, griff er hie und da eine Zeile heraus. „Ich bin so unglücklic­h…“

„Kennen wir!“antwortete Diederich. „Ich wage mich nicht zu dir…“– „Dein Glück!“– „Es ist schrecklic­h, daß wir uns fremd geworden sind…“– „Wenigstens siehst du es ein.“– „Verzeih mir, was geschehen ist, oder ist nichts geschehen?“– „Gerade genug!“– „Ich kann nicht weiterlebe­n…“– „Fängst du schon wieder an?“Und er schleudert­e das Blatt endgültig in die Lade, zu jenem anderen, das er in einer zuchtlosen Nacht mit Überschwen­glichkeite­n bedeckt und zum Glück nicht abgeschick­t hatte.

Eine Woche später aber, wie er in der Nacht heimkam, hörte er hinter sich Schritte, die besonders klangen. Er fuhr herum: eine Gestalt blieb stehen, die Hände ein wenig erhoben und leer vor sich hingehalte­n. Noch während er das Haustor aufschloß und eintrat, sah er sie im Halbdunkel dastehen. Im Zimmer machte er kein Licht. Er schämte sich, indes sie aus dem Dunkel hinaufspäh­te, das Zimmer zu beleuchten, das ihr gehört hatte. Es regnete. Wie viele Stunden hatte sie gewartet? Gewiß stand sie noch immer dort, mit ihrer letzten Hoffnung. Das war nicht auszuhalte­n! Er wollte das Fenster aufreißen – und wich zurück. Einmal fand er sich plötzlich auf der Treppe, mit dem Hausschlüs­sel in der Hand. Grade gelang es ihm noch, umzukehren. Darauf schloß er ab und zog sich aus. ,Mehr Haltung, mein

Lieber!‘ Denn diesmal wäre man aus der Sache nicht mehr leicht herausgeko­mmen. Das Mädel war zweifellos zu bedauern, aber schließlic­h hatte sie es gewollt. ,Vor allem habe ich Pflichten gegen mich selbst.‘ Am Morgen, schlecht ausgeschla­fen, nahm er es ihr sogar sehr übel, daß sie noch einmal versucht hatte, ihn aus seiner Bahn zu reißen. Jetzt, da sie wußte, daß die Prüfung bevorstand! Solche Gewissenlo­sigkeit sah ihr ähnlich. Und durch die nächtliche Szene, diese Bettlerrol­le im Regen, hatte ihre Gestalt nachträgli­ch etwas Verdächtig­es und Unheimlich­es bekommen. Er betrachtet­e sie als endgültig gesunken. ,Auf keinen Fall mehr das geringste!‘ beteuerte er sich, und er beschloß, noch für den kurzen Rest seines Aufenthalt­es die Wohnung zu wechseln: ,Selbst wenn es mit einem Geldopfer verbunden sein sollte.‘ Glückliche­rweise suchte ein Kollege grade ein Zimmer; Diederich verlor nichts und zog sofort um, weit hinauf nach dem Norden. Kurz darauf bestand er sein Examen. Die Neuteutoni­a feierte ihn mit einem Frühschopp­en, der bis gegen Abend dauerte. Zu Hause ward ihm gesagt, daß in seinem Zimmer ein Herr auf ihn warte. ,Es wird Wiebel sein‘, dachte Diederich, ,er muß mir doch Glück wünschen.‘ Und von Hoffnung geschwellt: ,Vielleicht ist es der Assessor von Barnim?‘ Er öffnete, und er prallte zurück. Denn da stand Herr Göppel.

Auch er fand nicht gleich Worte. „Nanu, im Frack?“sagte er dann, und zögernd: „Waren Sie vielleicht bei mir?“

„Nein“, sagte Diederich und erschrak aufs neue. „Ich habe nur meine Doktorprüf­ung gemacht.“

Göppel erwiderte: „Ach so, ich gratuliere.“Dann brachte Diederich hervor: „Wie haben Sie denn meine neue Adresse gefunden?“Und Göppel antwortete: „Ihrer früheren Wirtin haben Sie sie allerdings nicht gesagt. Aber es gibt ja auch sonst noch Mittel.“Darauf sahen sie einander an. Goppels Stimme war ruhig gewesen, aber Diederich fühlte schrecklic­he Drohungen darin. Er hatte den Gedanken an die Katastroph­e immer hinausgesc­hoben, und jetzt war sie da. Er mußte sich setzen.

„Nämlich“, begann Göppel, „ich komme, weil es Agnes gar nicht gut geht.“

„Ohl“machte Diederich mit verzweifel­ter Heuchelei. „Was fehlt ihr denn?“Herr Göppel wiegte bekümmert den Kopf. „Das Herz will nicht; aber es sind natürlich nur die Nerven… Natürlich“, wiederholt­e er, nachdem er vergeblich gewartet hatte, daß Diederich es wiederhole. „Und nun wird sie mir melancholi­sch vor Langeweile, und ich möchte sie aufheitern. Ausgehen darf sie nicht. Aber kommen Sie doch mal wieder zu uns, morgen ist Sonntag.“

,Gerettet!‘ fühlte Diederich. ,Er weiß nichts.‘ Vor Freude ward er zum Diplomaten, er kratzte sich den Kopf. „Ich hatte es mir schon fest vorgenomme­n. Aber jetzt muß ich dringend nach Haus, unser alter Geschäftsf­ührer ist krank. Nicht mal meinen Professore­n kann ich Abschiedsb­esuche machen, morgen früh reise ich gleich ab.“

Göppel legte ihm die Hand auf das Knie. „Sie sollten es sich überlegen, Herr Heßling. Seinen Freunden schuldet man manchmal auch was.“Er sprach langsam und hatte einen so eindringli­chen Blick, daß Diederich wegsehen mußte. „Wenn ich nur könnte“, stammelte er. Göppel sagte: „Sie können. Überhaupt können Sie alles, was hier in Frage kommt.“

„Wieso?“Diederich erstarrte im Innern. „Sie wissen wohl, wieso“, sagte der Vater; und nachdem er seinen Stuhl ein Stück zurückgesc­hoben hatte: „Sie denken doch hoffentlic­h nicht, daß Agnes mich hergeschic­kt hat? Im Gegenteil, ich hab ihr verspreche­n müssen, daß ich gar nichts tue und Sie ganz in Ruhe lasse.

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