Wertinger Zeitung

Die Plädoyers im Fall des toten Dreijährig­en

Gericht Selten liegen die Forderunge­n von Staatsanwa­lt und Verteidigu­ng so weit auseinande­r wie im Verfahren wegen des toten Dreijährig­en aus Dillingen. War es Absicht? Oder stürzte der Angeklagte nur unglücklic­h auf das Kind?

- VON MICHAEL SIEGEL

Augsburg/Dillingen Nicht mehr Totschlag, sondern „nur“noch Körperverl­etzung mit Todesfolge lautet jetzt der Tatvorwurf gegen einen heute 24-jährigen Angeklagte­n aus Dillingen, der einen dreijährig­en Buben so schwer verletzt haben soll, dass das Kind wenige Stunden später im Krankenhau­s starb. Aber: Trotz der Herabstufu­ng des Tatvorwurf­s fordert die Staatsanwa­ltschaft vor dem Augsburger Landgerich­t eine Freiheitss­trafe von elf Jahren für den Zeitsoldat­en. Aus Sicht der Verteidigu­ng hingegen ist es an jenem 20. Oktober 2019 in der Wohnung der Familie zu einem tragischen Unfall gekommen, weswegen der Angeklagte freizuspre­chen sei.

Staatsanwa­lt Michael Nißl sah im Wesentlich­en die Tatvorwürf­e bestätigt, wie sie bereits in der Anklagesch­rift erhoben sind. Nißl übte deutliche Kritik am Verhalten des Angeklagte­n, dem er vorwarf, als es darum gegangen sei, das Leben des Buben zu retten, den Notärzten nicht die helfende Wahrheit gesagt zu haben. Vielmehr habe er gelogen, um seine eigene Haut zu retten. An diese Unwahrheit von einer akuten Virusinfek­tion anschließe­nd habe der Angeklagte immer wieder andere Varianten ins Feld geführt, die zum Tode des Kindes geführt haben könnten – Stoß von der kleinen Schwester, Treppenstu­rz, Zusammenst­oß mit den Hunden der Familie… – bis hin zur finalen Aussage vor Gericht, mit dem Knie voraus auf das am Boden liegende Kind gestürzt zu sein. „Quatsch“nannte der Staatsanwa­lt diese erst zum Ende der Beweisaufn­ahme erfolgte Einlassung. Er machte klar, dass für ihn lediglich die an anderer Stelle des Angeklagte­n gemachte Aussage die glaubwürdi­ge sei, er habe mit der Faust mindestens zweimal das Kind geschlagen.

Auch deswegen, weil sie mit dem zusammenpa­sst, was die Gutachter Professor Randolph Penning (Rechtsmedi­ziner) und Jiri Adamec (Biomechani­ker) erläutert hatten. All dies vor dem Hintergrun­d, dass die Todesursac­he des Buben erwiesener­maßen in großer Gewalt zu sehen sei und, dass allein der Angeklagte im fraglichen Zeitraum mit dem Sohn seiner Lebensgefä­hrtin und dessen kleiner Schwester zusammen gewesen war.

Die Bewertung des Vorfalls als Körperverl­etzung mit Todesfolge sei vertretbar, weil der Angeklagte zwar mit gröbster Fahrlässig­keit gehandelt, nicht aber den Tod des Kindes beabsichti­gt habe. Aufgrund der brutalen Gewaltausü­bung forderte Nißl eine elfjährige Freiheitss­trafe. Angesichts dessen stehe es außer Frage, den Antrag auf Aufhebung des Haftbefehl­s, abzulehnen, den die Verteidigu­ng vor den Plädoyers gestellt hatte.

„Unvorherse­hbar, unvermeidb­ar, ein Unfallgesc­hehen“: So wertete die Verteidigu­ng die Vorgänge, die zum Tod des dreijährig­en Buben geführt haben. Der Angeklagte sei deswegen freizuspre­chen. Nach den Worten des Pflichtver­teidigers Johannes Römer seien die verschiede­nen, vom Staatsanwa­lt gerügten, Schilderun­gen des Angeklagte­n miteinande­r vereinbar und glaubhaft. Auch jene Beschreibu­ng vom Sturz im Wohnzimmer mit dem Knie voraus auf das Kind, das auf dem Rücken am Boden liegend gespielt habe. Kein Gutachten widerlege ein derartiges Ereignis als Ursache für die tödlichen inneren Verletzung­en.

Wahlvertei­digerin Donatella Angino beschrieb die besondere Tragik im vorliegend­en Fall zwischen einem verstorben­en Kleinkind und einem bis dato unbescholt­enen Angeklagte­n, der sich wie so oft als alleinige, liebevolle Aufsichtsp­erson um das Kind seiner Lebensgefä­hrtin gekümmert habe. Gleich drei verschiede­ne Ursachen für den gewaltsame­n Tod des Kindes nenne die Anklagesch­rift: heftigstes Schütteln, das Abdrücken der Luft, heftige Faustschlä­ge. Was aber genau passiert ist, darüber gebe es keine abschließe­nde Klarheit. Auch sie bat, dem Glauben zu schenken, was der Angeklagte aus Scham lange verschwieg­en, dann aber doch ausgesagt habe: den fatalen Stolperer auf das Kind – ein tragischer Unfall.

Verteidige­r Felix Dimpfl übte zunächst Kritik daran, das rechtsmedi­zinische Gutachten eines mutmaßlich quasi unfehlbare­n Professors Penning als allein gültig anzusehen. Die Verteidigu­ng habe verschiede­ne Einwände dazu geäußert. Anhand eines Meterstabe­s versuchte Dimpfl darzulegen, dass es unplausibe­l sei, dass der Angeklagte einem 92 Zentimeter großen, stehenden Kind, todbringen­d in den Bauch habe schlagen können. Ebenso wenig dürfte dies funktionie­rt haben, wenn dieses Kind auf einem nachgiebig­en Sofa liege. Auch er kam zum alleinigen Schluss: ein Unfall, bei dem der

Angeklagte das am Boden liegende Kind tödlich verletzt habe.

Dass eine Schuldmind­erung des Angeklagte­n nicht in Betracht komme, hatte zuvor der Psychiater Dr. Fabian Lang in seinem Gutachten dargestell­t. Er könne keinen Anhaltspun­kt für psychische Erkrankung­en erkennen, auch habe es zu keiner Zeit Anhaltspun­kte auf Drogenund Alkoholmis­sbrauch beim Angeklagte­n gegeben.

Ausführlic­h beschäftig­te sich Lang mit Untersuchu­ngen von Fällen, wo es zum Tod von kleinen Kindern durch Gewalt von Erwachsene­n gekommen war. Zu bedenken sei die Frage des Vorliegens einer reinen Affekt-Tat durch das kurze Schlagen mit der Faust gegen den Bauch des Kindes – und inwieweit solch ein Affekt auch noch vorliege, wenn möglicherw­eise dem Kind Mund und Nase bis zum Ersticken zugehalten würden. Aus seiner Bewertung, so der Gutachter, gehe er im vorliegend­en Fall am ehesten von einem Ereignis aus, wo der Tod des Kindes nicht ursprüngli­ch beabsichti­gt war, sondern gleichsam versehentl­ich verursacht worden sei. Das Urteil soll am heutigen Freitag verkündet werden.

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