„Bei Frauen gibt es häufiger Nebenwirkungen“
Interview Der Impfexperte Carsten Watzl zählt zu den bekanntesten Immunmedizinern. Der Professor spricht über Todesfälle im Zusammenhang mit AstraZeneca, warum es so lange dauert, Impfstoff zu produzieren und über ein Ende der Pandemie
Warum ist es so schwierig, eine so große Masse an Impfstoff herzustellen? Verzeihen Sie den Vergleich: Aber um ganz Deutschland durchzuimpfen, bräuchte man umgerechnet so viele Liter Impfstoff, wie auf dem Oktoberfest in einem großen Festzelt an ein bis zwei Tagen Bier durch die Kehlen rinnt, wenn die Menschen feiern dürften. Carsten Watzl: Leider ist die Herstellung des Impfstoffes deutlich komplizierter als das Brauen des Bieres. Bei den Vektor-Impfstoffen wie von AstraZeneca oder Johnson & Johnson braucht man beispielsweise Viren, die sich selbst nicht vermehren können. Sie werden in speziellen Zellen gezüchtet, die Bestandteile enthalten, die den Viren zum Vermehren fehlen. Diese Viren werden dann gereinigt und sie müssen nochmals stark konzentriert werden. In einer Impfdosis sind am Ende nicht weniger als 50 Milliarden Virenpartikel enthalten. Für einen Maßkrug voll Impfstoff bräuchte man also hundert Billionen Virenpartikel. Noch dazu benötigt man eine absolut hochreine Produktion. Deshalb ist es leider nicht trivial, hektoliterweise Impfstoff herzustellen. Ich bin bereits recht froh darüber, wie uns das Ganze schon jetzt gelingt.
Derzeit steigen die Neuinfektionszahlen rasant an und die Sorgen vor der britischen Variante sind groß. Gibt es Chancen, das Impftempo zu erhöhen? Watzl: Wir haben von der Deutschen Gesellschaft für Immunologie schon im Januar empfohlen, dass man den Abstand zwischen erster und zweiter Impfdosis ausweitet. Leider wird immer noch in vielen Bundesländern und Impfzentren die zweite Impfdosis zurückgelegt und im Kühlschrank gelagert. Das heißt, wir verimpfen oft nur die Hälfte dessen, was möglich ist. Impfstoff zurückzulegen, ist angesichts der aktuellen Situation nicht mehr tragbar und kostet Menschenleben. Es würde jetzt viel helfen, alles zu verimpfen, was da ist und die Zweitimpfung dann zu machen, wenn die spätere Lieferung erfolgt. Noch immer die zweite Impfdosis auf Vorrat in den Kühlschrank zu packen, ist unverantwortlich.
Besteht noch die Hoffnung, gegen die dritte Welle animpfen zu können? Watzl: Wir werden die dritte Welle nicht mehr durch Impfungen brechen können. Deshalb müssen wir jetzt so schnell wie möglich die Risikogruppen impfen, damit möglichst wenige Menschen auf den Intensivstationen landen oder sterben müssen. Wir sind ja nicht im Lockdown wegen hoher Infektionszahlen, sondern damit nicht noch mehr Menschen sterben oder unser Gesundheitssystem überlastet wird. Und das können wir mit konsequenter Verwendung aller Impfdosen hoffentlich auch in dieser dritten Welle noch möglichst verhindern. Deshalb sollten wir die Impfreihenfolge einhalten, auch wenn wir dabei flexibler sein müssen, jeden über sechzig zu impfen.
Es gibt 22 Millionen Deutsche über sechzig, plus jüngere Risikopatienten. Watzl: Diese Leute müssen jetzt geimpft werden. Im zweiten Quartal bekommen wir über 70 Millionen Impfdosen. Bald haben wir auch den Impfstoff von Johnson & Johnson, hier können wir mit zehn Millionen Dosen sofort zehn Millionen Menschen impfen, weil man nur eine Impfung benötigt. Es ist ein Vektorimpfstoff mit einer Effektivität von 66 Prozent, bietet aber fast kompletten Schutz vor Krankenhausaufenthalt oder Tod. Johnson & Johnson wurde zudem in einer Zeit getestet, als die Virus-Mutanten schon eine Rolle gespielt haben. Er wirkt auch gegen die Südafrika-Variante.
Wie bewerten Sie, dass im Zusammenhang von Impfungen mit AstraZeneca die Zahl von Hirnvenenthrombose und auch Todesfällen zugenommen hat? Auch im Allgäu starb eine Krankenpflegerin, in Ulm eine junge Frau. Watzl: Das Paul-Ehrlich-Institut hat mit dem kurzzeitigen Impfstopp genau richtig reagiert, denn wir befinden uns jetzt in der Phase der massenhaften Überwachung der Impf
Wenn Vorkommnisse gemeldet werden, die bei nicht Geimpften nicht so häufig auftreten, dann ist das ein Signal, das überprüft werden muss. Das ist bei den sehr seltenen Sinusvenenthrombosen der Fall. Die Zahl der bekannten Fälle ist bislang auf mindestens 16 in Deutschland angestiegen, vier Patienten sind gestorben. Jetzt sind viele hellhörig und achten auf Thrombosen und entsprechende Symptome nach Impfungen. Das ist positiv, damit wir schnell solche Meldungen bekommen, denn wir wollen solche Nebenwirkungen identifizieren.
Wie hoch ist das Risiko?
Watzl: Bislang sagte man, die Nebenwirkung tritt in einem Fall von 100000 Impfungen auf. Aber diese Frequenz muss man immer neu ausrechnen. Nüchtern betrachtet ist eine Nebenwirkung in 100000 Fällen sehr selten, wenn man auf alle Geimpften in einer Risiko-NutzenAbwägung blickt. Selbst für eine 30-jährige Frau wäre das Risiko, an einer Corona-Erkrankung zu versterben in diesem Fall höher. Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat deshalb erklärt, dass für AstraZeneca der Nutzen die Risiken überwiegt.
Frankreich lässt nur noch Männer mit AstraZeneca impfen und Frauen über 55 Jahren. Halten Sie das für einen empfehlenswerten Weg?
Watzl: Die Ständige Impfkommission schaut sich dieses französische Modell derzeit an, um Daten für eine solide Entscheidung zu gewinnen. Wenn man eine derartige Einschränkung wegen eines möglichen Sicherheitsproblems einmal trifft, kann man sie kaum noch zurücknehmen. Deshalb ist es wichtig, genau zu prüfen, für welche Personengruppe eine solche Einschränkung richtig ist.
Heißt das, die Nebenwirkungen werden weiter richtig untersucht? Man hatte den Eindruck, der Beipackzettel wird geändert und das war’s ... Watzl: Dieser Eindruck ist falsch. Die Experten schauen sich die Fälle ganz genau an. Zum einen möchte man den Mechanismus verstehen, wie es zu dieser Sinusvenenthrombose kommt, um möglicherweise einen konkreten Warnhinweis an eine ganz bestimmte Personengruppe zu geben, die ein Risiko hat. Dann könnte man zum Beispiel diese Personengruppe von der Impfung mit AstraZeneca ausschließen und man hätte für alle anderen die gleiche Sistoffe. cherheit wie vor Bekanntwerden der Nebenwirkungen. Die bisher vorliegende Erklärung der Universität Greifswald klingt immunologisch plausibel. Damit könnte man betroffene Patienten sehr schnell identifizieren, diagnostizieren und hoffentlich auch sehr schnell behandeln. Es würde dieser Nebenwirkung einen Teil des Schreckens nehmen, wenn man eine gute Behandlung hat, die anschlägt und sehr schwere Folgen abwendet.
Es fällt auf, dass Frauen bei jedem Impfstoff, sei es von AstraZeneca, Biontech oder Moderna, stärker von Nebenwirkungen betroffen sind. Reagieren Frauen sensibler auf Impfungen? Watzl: Das hat wahrscheinlich sehr viele Ursachen. Derzeit werden deutlich mehr Frauen als Männer geimpft. Das kann aber nicht alles erklären. Immunologisch betrachtet haben Frauen von Haus aus ein stärkeres Immunsystem als Männer. Dabei spielen unter anderem auch die Hormone eine Rolle. Deshalb haben Frauen bei Corona-Erkrankungen den Vorteil, dass sie daran seltener sterben als Männer. Frauen haben aber den Nachteil, dass sie häufiger von einigen Autoimmunerkrankungen betroffen sind, bei denen das Immunsystem selber eine Krankheit auslöst. Bei den CoronaImpfungen sind über 90 Prozent der Nebenwirkungen, die gemeldet werden, Impfreaktionen, die das Immunsystem des Körpers auslöst. Das Immunsystem reagiert hier bei Frauen oft stärker, was erklärt, warum sie hier häufiger betroffen sind als Männer. Das gilt möglicherweise auch für allergische Reaktionen, die ebenfalls mit dem Immunsystem zu tun haben.
Wird uns das Impfen aus der Pandemie retten und wann rechnen Sie damit? Watzl: Man sieht, dass in Ländern, die uns mit dem Impfen voraus sind, die Inzidenzzahlen nach unten gehen. In Israel sinken die Infektionszahlen inzwischen nicht nur in der älteren Bevölkerung, sondern sogar bei den unter 18-Jährigen, die kaum geimpft sind. Das ist ein schönes Beispiel für die Herdenimmunität: Impfungen schützen auch die Menschen, die gar nicht geimpft sind. Da müssen wir auch in Deutschland hin, aber das werden wir bei unserer Bevölkerungszahl erst im Herbst schaffen und dann idealerweise eine Herdenimmunität erreichen. Wir können also durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.
● Carsten Watzl ist Professor an der Uni Dortmund und Generalsekretär der Deutschen Gesell schaft für Immunolo gie. Auf YouTube betreibt er den Blog „Watzl Weekly“.