Wertinger Zeitung

„Bei Frauen gibt es häufiger Nebenwirku­ngen“

Interview Der Impfexpert­e Carsten Watzl zählt zu den bekanntest­en Immunmediz­inern. Der Professor spricht über Todesfälle im Zusammenha­ng mit AstraZenec­a, warum es so lange dauert, Impfstoff zu produziere­n und über ein Ende der Pandemie

- Interview: Michael Pohl

Warum ist es so schwierig, eine so große Masse an Impfstoff herzustell­en? Verzeihen Sie den Vergleich: Aber um ganz Deutschlan­d durchzuimp­fen, bräuchte man umgerechne­t so viele Liter Impfstoff, wie auf dem Oktoberfes­t in einem großen Festzelt an ein bis zwei Tagen Bier durch die Kehlen rinnt, wenn die Menschen feiern dürften. Carsten Watzl: Leider ist die Herstellun­g des Impfstoffe­s deutlich komplizier­ter als das Brauen des Bieres. Bei den Vektor-Impfstoffe­n wie von AstraZenec­a oder Johnson & Johnson braucht man beispielsw­eise Viren, die sich selbst nicht vermehren können. Sie werden in speziellen Zellen gezüchtet, die Bestandtei­le enthalten, die den Viren zum Vermehren fehlen. Diese Viren werden dann gereinigt und sie müssen nochmals stark konzentrie­rt werden. In einer Impfdosis sind am Ende nicht weniger als 50 Milliarden Virenparti­kel enthalten. Für einen Maßkrug voll Impfstoff bräuchte man also hundert Billionen Virenparti­kel. Noch dazu benötigt man eine absolut hochreine Produktion. Deshalb ist es leider nicht trivial, hektoliter­weise Impfstoff herzustell­en. Ich bin bereits recht froh darüber, wie uns das Ganze schon jetzt gelingt.

Derzeit steigen die Neuinfekti­onszahlen rasant an und die Sorgen vor der britischen Variante sind groß. Gibt es Chancen, das Impftempo zu erhöhen? Watzl: Wir haben von der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e schon im Januar empfohlen, dass man den Abstand zwischen erster und zweiter Impfdosis ausweitet. Leider wird immer noch in vielen Bundesländ­ern und Impfzentre­n die zweite Impfdosis zurückgele­gt und im Kühlschran­k gelagert. Das heißt, wir verimpfen oft nur die Hälfte dessen, was möglich ist. Impfstoff zurückzule­gen, ist angesichts der aktuellen Situation nicht mehr tragbar und kostet Menschenle­ben. Es würde jetzt viel helfen, alles zu verimpfen, was da ist und die Zweitimpfu­ng dann zu machen, wenn die spätere Lieferung erfolgt. Noch immer die zweite Impfdosis auf Vorrat in den Kühlschran­k zu packen, ist unverantwo­rtlich.

Besteht noch die Hoffnung, gegen die dritte Welle animpfen zu können? Watzl: Wir werden die dritte Welle nicht mehr durch Impfungen brechen können. Deshalb müssen wir jetzt so schnell wie möglich die Risikogrup­pen impfen, damit möglichst wenige Menschen auf den Intensivst­ationen landen oder sterben müssen. Wir sind ja nicht im Lockdown wegen hoher Infektions­zahlen, sondern damit nicht noch mehr Menschen sterben oder unser Gesundheit­ssystem überlastet wird. Und das können wir mit konsequent­er Verwendung aller Impfdosen hoffentlic­h auch in dieser dritten Welle noch möglichst verhindern. Deshalb sollten wir die Impfreihen­folge einhalten, auch wenn wir dabei flexibler sein müssen, jeden über sechzig zu impfen.

Es gibt 22 Millionen Deutsche über sechzig, plus jüngere Risikopati­enten. Watzl: Diese Leute müssen jetzt geimpft werden. Im zweiten Quartal bekommen wir über 70 Millionen Impfdosen. Bald haben wir auch den Impfstoff von Johnson & Johnson, hier können wir mit zehn Millionen Dosen sofort zehn Millionen Menschen impfen, weil man nur eine Impfung benötigt. Es ist ein Vektorimpf­stoff mit einer Effektivit­ät von 66 Prozent, bietet aber fast kompletten Schutz vor Krankenhau­saufenthal­t oder Tod. Johnson & Johnson wurde zudem in einer Zeit getestet, als die Virus-Mutanten schon eine Rolle gespielt haben. Er wirkt auch gegen die Südafrika-Variante.

Wie bewerten Sie, dass im Zusammenha­ng von Impfungen mit AstraZenec­a die Zahl von Hirnvenent­hrombose und auch Todesfälle­n zugenommen hat? Auch im Allgäu starb eine Krankenpfl­egerin, in Ulm eine junge Frau. Watzl: Das Paul-Ehrlich-Institut hat mit dem kurzzeitig­en Impfstopp genau richtig reagiert, denn wir befinden uns jetzt in der Phase der massenhaft­en Überwachun­g der Impf

Wenn Vorkommnis­se gemeldet werden, die bei nicht Geimpften nicht so häufig auftreten, dann ist das ein Signal, das überprüft werden muss. Das ist bei den sehr seltenen Sinusvenen­thrombosen der Fall. Die Zahl der bekannten Fälle ist bislang auf mindestens 16 in Deutschlan­d angestiege­n, vier Patienten sind gestorben. Jetzt sind viele hellhörig und achten auf Thrombosen und entspreche­nde Symptome nach Impfungen. Das ist positiv, damit wir schnell solche Meldungen bekommen, denn wir wollen solche Nebenwirku­ngen identifizi­eren.

Wie hoch ist das Risiko?

Watzl: Bislang sagte man, die Nebenwirku­ng tritt in einem Fall von 100000 Impfungen auf. Aber diese Frequenz muss man immer neu ausrechnen. Nüchtern betrachtet ist eine Nebenwirku­ng in 100000 Fällen sehr selten, wenn man auf alle Geimpften in einer Risiko-NutzenAbwä­gung blickt. Selbst für eine 30-jährige Frau wäre das Risiko, an einer Corona-Erkrankung zu versterben in diesem Fall höher. Die europäisch­e Zulassungs­behörde EMA hat deshalb erklärt, dass für AstraZenec­a der Nutzen die Risiken überwiegt.

Frankreich lässt nur noch Männer mit AstraZenec­a impfen und Frauen über 55 Jahren. Halten Sie das für einen empfehlens­werten Weg?

Watzl: Die Ständige Impfkommis­sion schaut sich dieses französisc­he Modell derzeit an, um Daten für eine solide Entscheidu­ng zu gewinnen. Wenn man eine derartige Einschränk­ung wegen eines möglichen Sicherheit­sproblems einmal trifft, kann man sie kaum noch zurücknehm­en. Deshalb ist es wichtig, genau zu prüfen, für welche Personengr­uppe eine solche Einschränk­ung richtig ist.

Heißt das, die Nebenwirku­ngen werden weiter richtig untersucht? Man hatte den Eindruck, der Beipackzet­tel wird geändert und das war’s ... Watzl: Dieser Eindruck ist falsch. Die Experten schauen sich die Fälle ganz genau an. Zum einen möchte man den Mechanismu­s verstehen, wie es zu dieser Sinusvenen­thrombose kommt, um möglicherw­eise einen konkreten Warnhinwei­s an eine ganz bestimmte Personengr­uppe zu geben, die ein Risiko hat. Dann könnte man zum Beispiel diese Personengr­uppe von der Impfung mit AstraZenec­a ausschließ­en und man hätte für alle anderen die gleiche Sistoffe. cherheit wie vor Bekanntwer­den der Nebenwirku­ngen. Die bisher vorliegend­e Erklärung der Universitä­t Greifswald klingt immunologi­sch plausibel. Damit könnte man betroffene Patienten sehr schnell identifizi­eren, diagnostiz­ieren und hoffentlic­h auch sehr schnell behandeln. Es würde dieser Nebenwirku­ng einen Teil des Schreckens nehmen, wenn man eine gute Behandlung hat, die anschlägt und sehr schwere Folgen abwendet.

Es fällt auf, dass Frauen bei jedem Impfstoff, sei es von AstraZenec­a, Biontech oder Moderna, stärker von Nebenwirku­ngen betroffen sind. Reagieren Frauen sensibler auf Impfungen? Watzl: Das hat wahrschein­lich sehr viele Ursachen. Derzeit werden deutlich mehr Frauen als Männer geimpft. Das kann aber nicht alles erklären. Immunologi­sch betrachtet haben Frauen von Haus aus ein stärkeres Immunsyste­m als Männer. Dabei spielen unter anderem auch die Hormone eine Rolle. Deshalb haben Frauen bei Corona-Erkrankung­en den Vorteil, dass sie daran seltener sterben als Männer. Frauen haben aber den Nachteil, dass sie häufiger von einigen Autoimmune­rkrankunge­n betroffen sind, bei denen das Immunsyste­m selber eine Krankheit auslöst. Bei den CoronaImpf­ungen sind über 90 Prozent der Nebenwirku­ngen, die gemeldet werden, Impfreakti­onen, die das Immunsyste­m des Körpers auslöst. Das Immunsyste­m reagiert hier bei Frauen oft stärker, was erklärt, warum sie hier häufiger betroffen sind als Männer. Das gilt möglicherw­eise auch für allergisch­e Reaktionen, die ebenfalls mit dem Immunsyste­m zu tun haben.

Wird uns das Impfen aus der Pandemie retten und wann rechnen Sie damit? Watzl: Man sieht, dass in Ländern, die uns mit dem Impfen voraus sind, die Inzidenzza­hlen nach unten gehen. In Israel sinken die Infektions­zahlen inzwischen nicht nur in der älteren Bevölkerun­g, sondern sogar bei den unter 18-Jährigen, die kaum geimpft sind. Das ist ein schönes Beispiel für die Herdenimmu­nität: Impfungen schützen auch die Menschen, die gar nicht geimpft sind. Da müssen wir auch in Deutschlan­d hin, aber das werden wir bei unserer Bevölkerun­gszahl erst im Herbst schaffen und dann idealerwei­se eine Herdenimmu­nität erreichen. Wir können also durchaus hoffnungsv­oll in die Zukunft blicken.

● Carsten Watzl ist Professor an der Uni Dortmund und Generalsek­retär der Deutschen Gesell‰ schaft für Immunolo‰ gie. Auf YouTube betreibt er den Blog „Watzl Weekly“.

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Foto: Robert Michael, dpa Corona‰Impfstoff von AstraZenec­a: „Die Experten schauen sich die Fälle ganz genau an.“
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