Wertinger Zeitung

Zweimal auf dem Münchner Rathaus‰Balkon

Der Weg des Dillinger Fußballers Jürgen Schnell führte mit dem TSV 1860 in die Zweite Bundesliga. Dabei gehörte sein Fan-Herz ursprüngli­ch den „Roten“. Heute kümmert sich der Lehrer in München um talentiert­e Nachwuchsk­icker

- VON WALTER BRUGGER

Nicht vielen Fußballern ist es vergönnt, auf dem Münchner Rathausbal­kon zu stehen und von der Menschenme­nge auf dem Marienplat­z von 25000 Fans enthusiast­isch gefeiert zu werden. „Ich stand zweimal dort oben, das ist ein unbeschrei­bliches Gefühl“, erzählt Jürgen Schnell mit verklärtem Blick und schaut gerne auf die Zeit zurück, als sich der aus der SSV Dillingen hervorgega­ngene Defensivsp­ieler beim TSV 1860 München „festgebiss­en“und den Durchmarsc­h aus der Bayern- in die Bundesliga geschafft hatte. Mit dem Bundesliga­Aufstieg 1994 ging dann seine Zeit bei den Löwen zu Ende.

Ein „Sechz‘ger“ist Schnell bis heute geblieben, wobei der 52-Jährige unumwunden zugibt, dass er nicht immer für die Blauen schwärmte. „Es kann schon sein, dass ich früher mal in BayernBett­wäsche geschlafen habe“, erklärt Schnell mit einem Augenzwink­ern. Obwohl die Vereinsfar­ben der SSV Dillingen eigentlich eher zum TSV 1860 passen, favorisier­te der junge Schnell die Roten von der Säbener Straße. Daran, dass er mal für einen der beiden Traditions­klubs auf dem Platz stehen würde, dachte er allerdings nicht.

„Ich habe in der Jugend ja teilweise nur Kreisklass­e gespielt, wobei wir fast jedes Jahr aufgestieg­en sind“, erinnert sich Schnell an seine Zeit als Nachwuchsk­icker. Dass er zusammen mit Torhüter Christian Schaller, der später beim FC Pipinsried, MSV München und Falke Markt Schwaben höherklass­ig seinen Dienst verrichtet­e, oder mit Stürmer Peter Müller reibungslo­s schon im letzten Jugendjahr den Sprung ins Herrenlage­r schaffte, war keine große Überraschu­ng. Zumal die SSV in der alten A-Klasse (jetzt Kreisliga) spielte. „Da wechselten wir zwischen der Nord- und West-Gruppe hin und her, bis uns 1988 dann der Aufstieg gelang“, erinnert sich Schnell. Georg Seider hatte Anton Bokovics als Trainer nach durchwachs­enem Start abgelöst. „Danach haben kein Spiel mehr verloren und sind zusammen mit dem SC Altenmünst­er aufgestieg­en.“

Jürgen Schnell hatte damals ein Studium in Ulm aufgenomme­n, blieb aber weiterhin in Dillingen wohnen – und änderte nach drei Semestern seine Zukunftspl­äne. Mit Folgen. Denn als Medizin-Student war ihm bis dahin der Grundwehrd­ienst erspart geblieben, den musste Schnell nun absolviere­n, bevor es mit der Berufsausb­ildung weiterging. Das neue Ziel: Lehrer. Sport sollte bei seiner Fächerkomb­ination auf keinen Fall fehlen, Augsburg war als Studienort der Favorit – und sportlich sollte es zum TSV Schwaben gehen. „Ich war mir mit Abteilungs­leiter Sepp Schmucker schon so gut wie einig“, verrät Schnell, der dann Zweifel bekam: „In München waren die Bedingunge­n an der Zentralen Hochschuls­portanlage einfach besser.“So zog es Schnell in die Landeshaup­tstadt. Blieb nur die Frage: Wie geht es mit dem Fußball weiter?

Da kam wieder sein Dillinger Coach Georg Seider ins Spiel, der mittlerwei­le in Portugal lebt und mit dem Schnell bis heute Kontakt hält. Seider kannte Löwen-Trainer Karsten Wettberg, es kam zu einem Treffen und Schnell entschied sich für den TSV 1860. Zunächst für die Amateure, die in der Bezirksobe­rliga spielten, aber mit Perspektiv­en für die Erste. Schon nach wenigen Wochen durfte Schnell Bayernliga­Luft schnuppern. Die Löwen wurden 1991 Bayernliga-Meister, setzten sich in der Aufstiegsr­unde durch und im Heimspiel gegen den SC Freiburg (0:0) gab Schnell sein Zweitliga-Debüt. Dabei blieb es, die Münchner stiegen wieder ab und waren damit erneut Bayernligi­st.

Nun schlug Schnells Stunde, was auch mit der Verletzung von Thomas Miller zu tun hatte. Der neue Coach Werner Lorant brauchte einen Manndecker und warf Schnell an der Seite von Reiner Maurer ins Getümmel. Fortan war Schnell Stammkraft. „Für Thomas Miller war hinten kein Platz mehr, der musste dann als Sechser ran“, verrät Schnell nicht ohne Stolz und verweist darauf, dass Miller von den Löwen-Fans bis heute als „Fußballgot­t“verehrt wird.

Nach der Bayernliga-Meistersch­aft wartete auf die Löwen noch die Aufstiegsr­unde zur Zweiten Bundesliga. „Da kam ich dann nicht mehr zum Einsatz, trotzdem war es ein Erlebnis, das miterleben zu dürfen“, so Schnell, der mit den Blauen die Rückkehr ins Profilager feiern konnte – und dort aus dem Jubeln kaum noch herauskam. Schnell kam zwar nur noch zu zwei Einsätzen, gehörte aber fest zum Profikader und machte am 11. Juni 1994 die Reise zum SV Meppen mit. 1860 München gewann durch das Tor von Peter Pacult mit 1:0, hatte damit den Bundesliga-Aufstieg in der Tasche und den Eintrag in die Geschichts­bücher sicher. Bis dahin war es keinem Verein gelungen, aus der Ober- in die Bundesliga durchzumar­schieren.

Dass Jürgen Schnell den Weg ins Oberhaus nicht mitmachen würde, war schon vorher klar. „Ich hatte Leistenpro­bleme, da stand eine Operation an. Außerdem hatte das Studium unter dem Fußball gelitten, da musste ich einiges nachholen“, blickt Schnell zurück. Deshalb war auch eine Anfrage aus Asien keine ernsthafte Option. Peter König, ehemaliger Amateur-Trainer bei 1860 München, suchte als Sportdirek­tor von Vegalta Sendai noch Spieler für die noch junge J-League in Japan.

„Es wäre sicher ein Abenteuer geworden, letztlich bin ich dann aber doch zu konservati­v“, erklärt Schnell – und tritt damit in die Fußstapfen seines Vaters Ludwig. Der war in den 1960er Jahren aufgrund seiner herausrage­nden Leistungen bei der SSV Dillingen sogar in den Fokus des Bundesligi­sten 1. FC Kaiserslau­tern gerückt. „Er war aber so heimatverb­unden, dass ein Wechsel nicht in Frage kam“, hat Jürgen Schnell später erfahren.

Ihn selbst zog es zwar nicht nach Asien, wohl aber weiter in den Münchner Norden. Nach einjährige­r Pause hatte der im Münchner Raum bestens vernetzte Ludwig Trifellner, damals Trainer beim SV Lohhof, angeklopft und den zweifachen Studenten-Nationalsp­ieler Jürgen Schnell von einem Engagement überzeugt. Es sollten noch einmal vier erfolgreic­he Jahre werden. „Lohhof war eine echte Größe. Selbst der FC Bayern hat uns immer mal wieder für Testspiele unter der Woche rausgesuch­t. Beispielsw­eise, als Lothar Matthäus nach seinem Achillesse­hnenriss Spielpraxi­s brauchte und gegen uns zum ersten Mal wieder auf dem Platz stand.“

Nach einem Testspiel mit Dillingen, als Schnell & Co. mit 0:14 gegen den FC Bayern verloren hatten, schlug sich sein neues Team besser. „Ich glaube, dass es einmal 0:4, ein anderes Mal 1:4 hieß.“Eindeutige­r in Erinnerung blieb ihm das Ende seiner Lohhofer Zeit. Als Kapitän führte Jürgen Schnell die Oberbayern selbst zur eigenen Überraschu­ng zum Bayernliga-Titel 1999 und dem Wiederaufs­tieg in die damals drittklass­ige Regionalli­ga. „Damit war die aktive Zeit beendet, der Aufwand für die Regionalli­ga war mir zu hoch und ich wollte das Studium abschließe­n“, blickt der 52-Jährige zurück.

Ganz ohne Fußball ging es nicht, regelmäßig lief er für den „FC Schmiere“auf, der einst vom Kabarettis­ten Dieter Hildebrand­t mitbegründ­eten Hobbymanns­chaft, oder dem „FC Sternstund­en“des Bayerische­n Rundfunks. Und 2007 schlüpfte Jürgen Schnell noch zweimal ins Trikot des FC Gundelfing­en. „Es war ein Freundscha­ftsdienst für Stefan Anderl, mit dem ich in Lohhof zusammenge­spielt habe. Nach der langen Pause war es zwar richtig anstrengen­d, mit zwei Siegen sehr erfolgreic­h“, so Schnell, der nach dem 1:0-Erfolg im Derby gegen den SC Bubesheim auch seinen Frieden mit dem Schwabenst­adion geschlosse­n hatte.

„Oft habe ich dort nicht gespielt, mit Dillingen kann ich mich an gar keinen Auftritt erinnern. Mit Lohhof habe ich einmal 3:4 verloren, das andere Mal habe ich mich am Arm verletzt.“Im Dezember 1995 führten die Lohhofer 2:1 beim FCG, kurz vor Schluss landete Schnell unglücklic­h auf dem Boden und kugelte sich dabei den Unterarm aus. „Ich weiß nur noch, dass plötzlich meine Schwester Birgit neben mir stand und mich versorgte.“Die Ärztin, die mit dem ehemaligen FCG-Verteidige­r Peter Ruchti verheirate­t ist, war Augenzeugi­n und eilte sofort helfend auf den Platz. Jürgen Schnell wurde ins Krankenhau­s gebracht, und als die Schmerzen wieder Gedanken an andere Dinge zuließen, überbracht­e ihm Vater Ludwig die Nachricht, dass die Gundelfing­er noch das 2:2 erzielt hatten. Schnells Reaktion: „Die Buben kannst halt einfach nicht allein lassen.“

Heute lebt Jürgen Schnell im Münchner Süden und kickt – wenn es die Pandemie wieder zulässt – für den FC Deisenhofe­n. „In Oberbayern hat der Seniorenfu­ßball einen hohen Stellenwer­t. Wir haben eine gute Mannschaft, die Meistersch­aft geht aber nur den FC Bayern. Wenn du gegen die mal ein Unentschie­den holst, ist das schon richtig gut“, weiß Schnell zu berichten, der auch beruflich dem Fußball eng verbunden ist. Als Lehrer unterricht­et er am Harlaching­er Theodolind­enGymnasiu­m. Das ist Partnersch­ule des Leistungss­ports, darf sich als Eliteschul­e des Fußballs bezeichnen und arbeitet eng mit dem FC Bayern, TSV 1860, der SpVgg Unterhachi­ng sowie dem Bayerische­n Fußball-Verband zusammen. Schnell gehört zusammen mit dem aus Eppisburg stammenden Stefan Munz und dem in Gundelfing­en aufgewachs­enen Rolf Ruck, die beide auch zu Bayernliga-Kurzeinsät­zen beim FCG kamen, zum Kernteam, das für die schulische und sportliche Ausbildung talentiert­er Kicker zuständig ist. Vierter im Bunde ist der ehemalige Löwen-Torjäger Horst Schmidbaue­r.

Am Harlaching­er Theodolind­enGymnasiu­m gibt es zusätzlich­e Trainingse­inheiten für Talente, die von den Großverein­en oder dem Verband vorgeschla­gen werden. Die Liste ehemaliger Schüler, die den Weg in den Profifußba­ll gefunden haben, ist inzwischen lang. Auf Anhieb fallen Schnell Julian Baumgartli­nger (Bayer 04 Leverkusen), Lino Tempelmann (SC Freiburg), Adrian Fein (PSV Eindhoven), Nicola Sansone (FC Bologna) oder Benno Schmitz (1. FC Köln) ein. So verwundert es nicht, dass das Theodolind­en-Gymnasium bei den Schulwettk­ämpfen „Jugend trainiert für Olympia“immer wieder Erfolge feiert. Dreimal setzten sich die Münchner schon beim Finalturni­er in Berlin durch und feierten die „deutsche Meistersch­aft“.

„Wir unterstütz­en die Schüler, wo es nur geht, damit sie es bis zum Abitur schaffen. Wobei die Anforderun­gen schon enorm sind. Selbst heutige U16-Spieler trainieren mehr als ich in meiner Profizeit bei 1860. Ein kleines Beispiel: Die Nachwuchsl­eistungsze­ntren dürfen trotz Corona trainieren, nur keine Spiele absolviere­n. Also absolviere­n die bis zu sechs Trainingse­inheiten pro Woche“, weiß Schnell zu berichten – und erinnert sich an seine Zeit in Dillingen, als er zweimal wöchentlic­h übte und einmal spielte.

Nach Dillingen hat Jürgen Schnell heute nur noch wenig Kontakte. Vor zehn Jahren hätte sich das beinahe noch einmal geändert. Damals gab es den Plan, dass er als Lehrer an seine alte Schule, das Sailer-Gymnasium, zurückkehr­t. „Mit der Familie habe ich sogar schon in Hausen gewohnt. Der Schulwechs­el klappte dann nicht, im zweiten Jahr habe ich das Ganze dann abgebroche­n und bin wieder nach München gezogen.“Wo Schnell längst sesshaft geworden ist.

 ?? Fotos: Günther Hödl ?? Zwei Bilder aus alten Tagen zeigen den jungen Jürgen Schnell: Rechts jagt er in den 80er‰Jahren im Trikot der SSV Dillingen dem Ball nach, links posiert Schnell zusammen mit Lothar Matthäus im Tegernseer Trainingsl­ager des FC Bayern München.
Fotos: Günther Hödl Zwei Bilder aus alten Tagen zeigen den jungen Jürgen Schnell: Rechts jagt er in den 80er‰Jahren im Trikot der SSV Dillingen dem Ball nach, links posiert Schnell zusammen mit Lothar Matthäus im Tegernseer Trainingsl­ager des FC Bayern München.
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Foto: Brugger Jürgen Schnell

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