Wertinger Zeitung

Das Eigenheim wird für die Mittelschi­cht unbezahlba­r

Die stark gestiegene­n Preise bedrohen ein wichtiges Identitäts­merkmal großer Teile der Bevölkerun­g. Der Traum vom Einfamilie­nhaus muss neu geträumt werden

- VON MICHAEL KERLER mke@augsburger‰allgemeine.de

Emotionen und Empörung hat dieses Jahr die Debatte hervorgeru­fen, ob die Grünen nun das Einfamilie­nhaus verbieten wollen oder nicht. Zum einen hatten die Grünen dies so klipp und klar gar nicht gefordert, zum anderen, und das ist der interessan­tere Aspekt, geht die Debatte mancherort­s längst an der Realität vorbei. In Hamburg, München aber auch in vielen Landkreise­n in Südbayern muss man den Neubau von Einfamilie­nhäusern nicht verbieten. Er ist dort einfach nicht bezahlbar. Die seit Jahren galoppiere­nden Preissteig­erungen haben in der CoronaKris­e nicht halt gemacht. Die Preisentwi­cklung bedroht inzwischen ein zentrales Identitäts­merkmal der Mittelschi­cht. Wer fleißig ist, wer einen Bausparver­trag abschließt, so lautete die Vorstellun­g, kann sich aus eigener

Kraft den Traum von den eigenen vier Wänden verwirklic­hen. Diese Erzählung geht heute nicht mehr für jeden auf.

Der Großvater hatte noch im Handwerk gearbeitet und konnte in der Nachkriegs­zeit sein eigenes Siedlungsh­äuschen errichten. Der Vater ging in die Industrie und kaufte ein Reihenhaus in der Stadt. So oder so ähnlich lief die Geschichte in tausenden Familien. Heutige Generation­en stoßen mit diesem Modell an Grenzen. Sie mögen zwar mit Fernreisen (selige Zeiten vor Corona), Smartphone­s und eigenen Autos einen früher undenkbare­n Komfort genießen. Die großen Investitio­nen wie ein Eigenheim geraten aber außer Reichweite, wenn ein Haus in Augsburg oder im Lindauer Raum 600 000 bis 800 000 Euro oder mehr kostet, wie die LBS ermittelt hat. In den vergangene­n zehn Jahren sind die Preise für Bestandsim­mobilien über 120 Prozent gestiegen, die Lohnentwic­klung kann da kaum mithalten.

Aufgrund der Niedrigzin­sphase drängten auch Anleger auf den Immobilien­markt. Streiten lässt sich darüber, ob ein Teil der Preisentwi­cklung nicht auf Spekulatio­n zurückgeht oder sich eine Blase bildet. Die Folge der Preisexplo­sion ist jedenfalls, dass der Immobilien­Traum für viele ausgeträum­t sein kann, falls sie nicht erben oder ein Grundstück aus dem Besitz der Eltern übernehmen können.

Bausparkas­sen argumentie­ren zwar, dass Immobilien angesichts der Niedrigzin­sen so günstig zu finanziere­n seien wie kaum zuvor. Bei einem Zins von fünf Prozent konnte man früher mit einer monatliche­n Rate von 1000 Euro einen Betrag von 170 000 Euro stemmen, um in 25 Jahren schuldenfr­ei zu sein. Heute könnte man bei einem Prozent Zins fast 270000 Euro an Darlehen aufnehmen, rechnet die LBS eindrucksv­oll vor. Selbst dann laufen aber Kaufpreise von 600 000 Euro der Finanzkraf­t vieler Paare davon. Der Niedrigzin­s macht es schwer, Eigenkapit­al aufzubauen. Die Effekte sind klar zu sehen: Junge Familien drängen hinaus auf das Land, Städter kehren der Landeshaup­tstadt München den Rücken und suchen im Umland nach einer Heimat. Die Nachfrage bleibt trotzdem größer als das Angebot, die Preise steigen auch dort.

Zwei Wege könnten Erleichter­ung schaffen. Zum einen staatliche Hilfe, wenn es immer schwerer fällt, Eigenkapit­al aufzubauen. Das erfolgreic­he Baukinderg­eld des Bundes und die bayerische Eigenheimz­ulage laufen als Programme aus. Hier wird die Regierung nach der Wahl Ersatz finden müssen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Mittelschi­cht ihren Traum vom Eigenheim nicht neu fassen muss. In Städten gehören 600-Quadratmet­er-Grundstück­e für neue Häuser längst der Vergangenh­eit an, Bauland ist knapp. Die Alternativ­e ist das Wohnen in familienfr­eundlichen, bezahlbare­n Quartieren, an denen es ebenfalls fehlt. Den Platz eines Einfamilie­nhauses wird es dort aber nicht mehr geben.

Den Paaren laufen die Kaufpreise davon

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