Wertinger Zeitung

„Wir sehen viel mehr junge Corona‰Patienten“

Interview Als Präsident der deutschen Intensivme­diziner-Vereinigun­g Divi warnt Gernot Marx vor einer drastische­n Zunahme schwerer Verläufe und Todesfälle. Ohne die „Notbremse“drohe allen Patienten der Katastroph­enfall in der Klinikvers­orgung

- Interview: Michael Pohl

Herr Professor Marx, mehrere Experten schlagen vor, um das Impftempo zu beschleuni­gen, jetzt mehr den Fokus auf Erstimpfun­gen zu legen und den Abstand zu Zweitimpfu­ngen auszudehne­n. Wie stehen Sie als Intensivme­diziner zu dieser Forderung? Gernot Marx: Aus Sicht der Intensivme­dizin ist das eine interessan­te Überlegung. Wir wissen, dass etwa 12 bis 14 Tage nach einer ersten Impfung ein gewisser Schutz besteht. Die Daten weisen darauf hin, dass danach schwere Verläufe kaum noch oder überhaupt nicht mehr vorkommen. Mehr Erstimpfun­gen in kürzerer Zeit könnten deshalb eine klare Entlastung der Intensivst­ation bedeuten, wenn sich diese Studienerg­ebnisse in der Praxis bestätigen.

Wie wichtig sind die Impfungen insgesamt für die Entlastung der Intensivst­ationen in Deutschlan­d?

Marx: Die Impfungen sind das wichtigste Mittel, um die Pandemie zu bekämpfen. Wir sehen schon jetzt auf den Intensivst­ationen, dass wir nur noch sehr wenige Patienten im Alter über 80 Jahren aufnehmen müssen. Die Impfungen in dieser Altersgrup­pe sind bereits sehr weit fortgeschr­itten, weshalb hier kaum noch Menschen schwer erkranken. Die Impfungen wirken. Und es ist sehr gut, dass sie auch gegen die britische Mutante B.1.1.7. schützen. Deshalb müssen wir jetzt Zeit für die Impfungen der breiten Bevölkerun­g gewinnen. Denn jetzt im April und den folgenden Monaten erwarten wir zig Millionen Impfdosen in Deutschlan­d.

Das medizinisc­he Personal in den Kliniken ist zum größten Teil geimpft. Macht sich das bereits bemerkbar? Marx: Ja, wir sehen einen wesentlich­en Unterschie­d zur ersten und zweiten Welle, als unsere Teams in großer Sorge waren, sich selbst mit Corona zu infizieren. Wir hatten im Vergleich zu anderen Ländern deutlich seltener Infektione­n in den Kliniken. In der ersten Welle sogar noch weniger als in der zweiten, als mehr Mitarbeite­r positiv getestet wurden und auch erkrankten. Nachdem ein wirklich ganz großer Teil der Mitarbeite­r im Gesundheit­swesen das Impfangebo­t in den vergangene­n Monaten angenommen hat, lässt sich heute ein eindeutige­r Rückgang feststelle­n. Vor allem sind unsere Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r deutlich beruhigter, was ihr alltäglich­es Risiko in der Patientenv­ersorgung angeht.

Wie viele Patientenz­ugänge befürchten

Sie für die kommenden Wochen auf den Intensivst­ationen?

Marx: Die Situation ist wirklich sehr, sehr angespannt. Wir zählen zu Wochenanfa­ng bereits 4600 Intensivpa­tienten mit Covid-19. Die Neuinfekti­onszahlen, die Sieben-Tage-Inzidenz und der R-Wert sind wegen der Osterfeier­tage mit Vorsicht zu interpreti­eren. Doch wir müssen davon ausgehen, dass wir deutschlan­dweit jetzt jeden Tag zwischen 50 und 100 neue Covid-Intensivpa­tienten aufnehmen müssen. Das heißt, dass wir bereits Ende April die Größenordn­ung von 6000 und mehr Corona-Intensivpa­tienten erreichen würden, wie wir sie auf dem Höhepunkt der zweiten Welle hatten. Darunter sind viele Menschen, die sich jetzt in diesen Tagen mit Corona infizieren und deren Krankheits­zustand sich in den kommenden Wochen verschlech­tern wird. Deshalb drängt die Zeit, das jetzt gehandelt wird.

Was ist Ihre Forderung an die Politik? Marx: Unsere dringende Bitte ist, dass die politisch Verantwort­lichen die geplanten Änderungen des Infektions­schutzgese­tzes möglichst noch diese Woche verabschie­den. Bis die Gesetzesma­ßnahmen umgesetzt sind, und wir auf den Intensivst­ationen einen Effekt merken, vergehen 12 bis 14 Tage. Wenn die Verabschie­dung des Gesetzes bis Ende April dauern sollte, würden wir bis Mitte Mai keinen Effekt davon auf den Intensivst­ationen spüren. Wir gehen davon aus, dass die Zahl der CovidPatie­nten, die wir auf den Intensivst­ationen versorgen müssen, dann auf 7000 steigen wird. Das wäre ein echter Stresstest nicht nur für die Intensivst­ationen, sondern für unser gesamtes Gesundheit­ssystem. Das ist unsere große Sorge. Deshalb können wir nur appelliere­n, dass die Gesetzesän­derungen im Schnellver­fahren beschlosse­n werden. Wir reden über sehr viele schwere Erkrankung­en und über viele Menschen, die das nicht überleben werden.

Wie ist momentan die Situation auf den Intensivst­ationen?

Marx: Wir bekommen von allen Klinikstan­dorten die gleichen Berichte, dass in der dritten Welle deutlich jüngere Patienten auf den Intensivst­ationen aufgenomme­n werden. Wir haben im Vergleich zur zweiten Welle viel mehr jüngere schwerkran­ke Patienten. Auch wenn uns dazu noch keine Studiendat­en vorliegen, sind unsere Erfahrunge­n aus der Praxis in Deutschlan­d einhellig. Wir sehen inzwischen sehr viele Vierzig- bis Fünfzigjäh­rige mit sehr schweren Corona-Verläufen auf den Intensivst­ationen. In der ersten und zweiten Welle waren unter 50-Jährige noch eine eher seltene Ausnahme.

Reichen denn die nun geplanten Maßnahmen der Notbremse aus? In Bayern sind die meisten Regeln bereits Praxis, doch auch hier steigen die Zahlen … Marx: Wir müssen die geplanten Maßnahmen jetzt erst einmal umsetzen. Wenn man sieht, dass sie nicht ausreichen, kann man über zusätzlich­e Schritte nachdenken. Prinzipiel­l müssen wir aber einen Zustand erreichen, wie wir ihn im ersten Lockdown hatten. Man konnte den Erfolg an wenig Mobilität und Verkehr ablesen. Als ich damals in die Klinik gefahren bin, wirkte es auf mich auch unter der Woche wie Sonntagvor­mittags. Diesen Zustand müssen wir wieder erreichen, um die Infektione­n zu begrenzen. Das ist natürlich aus ökonomisch­er Sicht eine sehr schwierige Herausford­erung. Aber wir müssen jetzt noch einmal das Infektions­geschehen unter Kontrolle bringen und die Inzidenz nach unten drücken – und das vor allem schnell! Danach werden wir den Effekt der Impfungen deutlich spüren, dann können wird mit Teststrate­gien öffnen und Infektions­ketten wieder nachverfol­gen. Je länger wir diesen Schritt hinauszöge­rn, desto schwierige­r wird das Ganze.

Ist der Eindruck berechtigt, Deutschlan­d sei glimpflich durch die Pandemie gekommen?

Marx: Ein Grund dafür ist sicher, dass wir in Deutschlan­d über so hohe Intensivka­pazitäten verfügen. Dabei geht es nicht nur um Betten und Maschinen, sondern darum, dass wir so viele Menschen haben, die schwerstkr­anke Menschen versorgen können, und zwar nicht nur Covid-19-Patienten. Wir haben natürlich auch sehr viele andere Schwerkran­ke und Notfälle, für die wir Kapazitäte­n auf den Intensivst­ationen brauchen.

Wie sehr ist dieses System bereits an seine Grenzen gestoßen?

Marx: Bisher konnten wir alle versorgen. Wir haben auch mit unserem Intensivre­gister dafür gesorgt, dass wir genau wissen, wo wir stehen. Wir arbeiten beispielsw­eise auch mit Telemedizi­n, um aus den Universitä­tskliniken andere Krankenhäu­ser bei der Versorgung von Covid-Patienten zu unterstütz­en. Wir versuchen, auch in der Krise innovativ zu sein. Trotz alledem sollten wir uns davor hüten, dass wir jetzt in den Kliniken in den Katastroph­enmodus schalten müssen. Dann ginge nur noch Notfallver­sorgung. Das ist ein Zustand, den wir unbedingt vermeiden wollen, schließlic­h gibt es auch noch viele andere schwere Krankheite­n als Corona. Gerade jetzt, wo wir die tolle Errungensc­haft wirksamer Impfungen in den Händen haben, sollten wir unsere Erfolge im Kampf gegen die Pandemie nicht auf den letzten Metern verspielen.

Gernot Marx, 55, ist Di‰ rektor der Klinik für Ope‰ rative Intensivme­dizin an der Uni Aachen und Prä‰ sident der Intensivme­dizi‰ ner‰Vereinigun­g DIVI.

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Foto: U. Wagner Mitarbeite­r auf der Intensivst­ation in Aichach: Bereits Ende April mehr Covid‰Patienten als in der zweiten Welle?
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