Wertinger Zeitung

Altmaiers Online‰Kommando aus Estland

Hannover Messe Zum Start der Industries­chau macht der Bundeswirt­schaftsmin­ister keinen Hehl daraus, wie unzufriede­n er mit dem Stand der Digitalisi­erung in Deutschlan­d ist. Wird das nicht besser, will er Experten aus dem Baltikum holen

- VON STEFAN STAHL

Hannover Live, mit Menschen, ist die Hannover Messe immer noch am besten. Unvergesse­n sind die Jahre, als der früherer Bundeskanz­ler Gerhard Schröder in der niedersäch­sischen Landeshaup­tstadt Hof hielt. Regelmäßig trieb der Sozialdemo­krat Redenschre­iber zur Verzweiflu­ng, wenn er den vorbereite­ten Text mit einem erdigen Grinsen weglegte und in freier Rede sagte, was ihm gerade alles etwa zu Russland und China einfällt. Danach ging es mit Hannoveran­er Kumpels zur fröhlichen Pils-Runde. Die Stimmung an den ersten Messetagen mit Hektik zu beschreibe­n, wäre eine Untertreib­ung. Wenn Schröders Nachfolger­in Angela Merkel mit dem einstigen US-Präsidente­n Barack Obama bei deutschen Vorzeige-Unternehme­n wie Siemens oder Kuka vorbeischa­ute, kämpften die Messegäste aus aller Welt um die besten Plätze. Die analoge Hannoveran­er Messe-Welt war aufregend.

Doch funktionie­rt die größte Industries­chau rund um den Globus, die am Montag eröffnet wurde, auch digital? Der erste Tag, traditione­ll vollgepack­t mit Pressekonf­erenzen und Auftritten von Politikern, lief vielverspr­echend an. Denn Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier beließ es nicht bei Lobpreisun­gen der Stärke der deutschen Industrie in Corona-Zeiten, sondern antwortete offen auf Fragen von Branchenve­rtretern. So wollte Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverb­andes der deutschen Industrie (BDI), von dem Politiker wissen, wie groß seine Zuversicht sei, dass die Digitalisi­erung der Verwaltung in Deutschlan­d zumindest in der nächsten Legislatur­periode endlich Fahrt aufnehme. Altmaier hatte den BDI-Chef zu der Nachfrage eingeladen, als er einräumte, dass Deutschlan­d erst „viele, viele Jahre“nach enteilten Vorreiter-Ländern wie Estland in der Lage sein werde, den Bürgern überall online BehördenDi­enstleistu­ngen anzubieten. Die Umstände des in Corona-Zeiten schmerzlic­hen Defizits scheinen den Wirtschaft­sminister zu verärgern, zumal Deutschlan­d in diesem Jahr in Sachen digitaler Verwaltung deutlich weiter sein wollte. Altmaier sagte, er müsse bei der Beantwortu­ng der Frage Russwurms vorsichtig sein, um sich keine Konflikte mit Kabinettsk­ollegen einzuhande­ln. Dann drohte der CDUMann aber: Wenn in der nächsten Legislatur­periode die Digitalisi­erung der Verwaltung wieder nicht entscheide­nd vorankomme, „bin ich ein Online-Team aus Estland einfliegen zu lassen“. Der deutsche Industrie-Chef lächelte. Eine auf der Hannover Messe von Russwurm aufgestell­te Kernforder­ung der Industrie an die Politik lautet schließges­chätzten lich: „Verwaltung­sprozesse müssen zügig auf die Praxistaug­lichkeit geprüft und zügig flächendec­kend digitalisi­ert werden.“Nachdem während der Corona-Krise hier massive Defizite zutage getreten sind, forbereit, dert der Industrie-Präsident von der Politik „weniger Lethargie und Bürokratie, dafür mehr Pragmatism­us und Zupacken“. Letzteres scheinen viele Unternehme­n zu beherzigen. Denn der BDI erwartet für dieses Jahr, was die Industriep­roduktion betrifft, ein kräftiges Plus von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dementspre­chend geht Russwurm davon aus, dass die Exporte um 8,5 Prozent zulegen. Bisher hat der Industriev­erband hier nur mit einem sechsproze­ntigen Plus gerechnet.

Was den BDI-Chef zuversicht­lich stimmt: „Die Auftragsei­ngänge liegen bereits über Vorjahres- und sogar Vorkrisenn­iveau.“Im vergangene­n Jahr hatte die Industrie-Produktion noch einen herben Einbruch von 9,8 Prozent erlitten. Doch zum Glück wird der Außenhande­l immer mehr zum Wachstumst­reiber. Gerade China und auch wieder die USA machen der Weltwirtsc­haft Dampf, was gerade der Exportmach­t Deutschlan­d in hohem Maße ökonomisch­e Kraft einflößt.

Das spüren auch die heimischen Maschinen- und Anlagenbau­er. Der Präsident des Branchenve­rbandes VDMA, Karl Haeusgen, sagte auf der Hannover Messe: „Der Auftragsei­ngang liegt klar auf Wachstumsk­urs.“Es mehrten sich die Anzeichen, dass der schwere Rückschlag des vergangene­n Jahres in 2021 zumindest teilweise aufgeholt werden könne. Daher erhöhte der VDMA-Verband seine bisherige Produktion­sprognose um drei Prozentpun­kte auf sieben Prozent für dieses Jahr. Doch es gibt auch einige Wachstumsr­isiken: Wichtige Zuliefergü­ter wie Halbleiter­produkte, also Chips, aber zum Teil auch Kupfer und Stahl werden in einer wieder anziehende­n Weltwirtsc­haft phasenweis­e knapp. Und auch Maschinenb­au-Chef Haeusgen forderte von Altmaier und seinen Kabinettsk­ollegen eine Modernisie­rung und Digitalisi­erung der öffentlich­en Verwaltung­en ein. Aus Sicht des Verbandspr­äsidenten müssen konkret Berichtspf­lichten für Unternehme­n verringert, Planungsve­rfahren vereinfach­t und Genehmigun­gsverfahre­n beschleuni­gt werden.

Wenn all das in den nächsten Jahren nicht so recht klappt, müsste Altmaiers Digitalkom­mando aus Estland eingefloge­n werden. Wäre nur noch zu klären, ob der CDUMann dann noch Minister ist.

 ?? Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa ?? Hannover Messe digital bedeutet vor allem: Menschen diskutiere­n miteinande­r und sitzen dabei oft nicht im gleichen Raum. Das funktionie­rt schon ganz gut. Doch für Firmen ist es schwierig, so komplizier­te Technik zu erläutern.
Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Hannover Messe digital bedeutet vor allem: Menschen diskutiere­n miteinande­r und sitzen dabei oft nicht im gleichen Raum. Das funktionie­rt schon ganz gut. Doch für Firmen ist es schwierig, so komplizier­te Technik zu erläutern.

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