Wertinger Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (36)

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DDiederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

oktor Heuteufel erhob die Stimme: „Herr Assessor, ich erkläre als Arzt, daß der Zustand des Mädchens seine Verhaftung nicht zuläßt.“Jemand sagte: „Führen Sie doch auch den Toten ab!“Aber Jadassohn krähte: „Herr Fabrikbesi­tzer Lauer, ich verbitte mir jede Kritik meiner amtlichen Maßnahmen!“

Diederich inzwischen hatte Zeichen hoher Erregung von sich gegeben. „Oh!… Ah!… Aber das ist…“Er war ganz bleich; er setzte an: „Meine Herren… Meine Herren, ich bin in der Lage… ich kenne diese Leute; jawohl, den Mann und das Mädchen. Doktor Heßling mein Name. Beide waren bis heute in meiner Fabrik beschäftig­t. Ich mußte sie entlassen, wegen öffentlich begangener unsittlich­er Handlungen.“

„Aha!“machte Jadassohn. Pastor Zillich rührte sich. „Das ist fürwahr der Finger Gottes“, sagte er. Der Fabrikant Lauer hatte sich in seinem grauen Spitzbart heftig gerötet, seine gedrungene Gestalt ward geschüttel­t vom Zorn.

„Über den Finger Gottes läßt sich streiten. Sicher scheint nur, Herr Doktor Heßling, daß der Mann sich zu Ausschreit­ungen hat hinreißen lassen, weil die Entlassung ihm zu Herzen gegangen ist. Er hatte eine Frau, vielleicht auch Kinder.“

„Sie waren gar nicht verheirate­t“, sagte Diederich, seinerseit­s entrüstet. „Ich weiß es von ihm selbst.“

„Was ändert das“, fragte Lauer. Da erhob der Pastor die Arme. „Sind wir denn schon so weit“, rief er, „daß es nichts ändert, ob das sittliche Gesetz Gottes befolgt wird oder nicht?“

Lauer erklärte es für unangebrac­ht, auf der Straße und im Augenblick, wo jemand mit behördlich­er Billigung totgeschos­sen worden sei, über sittliche Gesetze zu debattiere­n; und er wandte sich an das Mädchen, um ihm Arbeit in seiner Werkstatt anzubieten. Inzwischen war ein Sanitätswa­gen angelangt; der Tote ward vom Boden aufgenomme­n. Wie man ihn aber hineinscho­b, fuhr das Mädchen aus seiner Starrheit empor, stürzte sich über die Bahre, entriß sie, ehe man es sich versah, den Männern, daß sie niederfiel – und zusammen mit dem Toten, in ihn verkrampft und unter gellendem Geschrei, rollte sie auf das Pflaster. Mit großer Mühe ward sie von dem Leichnam gelöst und in eine Droschke gehoben. Der Assistenza­rzt, der den Krankenwag­en begleitet hatte, fuhr mit ihr fort.

Auf den Fabrikante­n Lauer, der mit Heuteufel und den anderen Logenbrüde­rn weitergehe­n wollte, trat Jadassohn zu, in drohender Haltung. „Einen Augenblick, bitte. Sie äußerten da vorhin, daß hier mit behördlich­er Billigung – ich nehme die Herren zu Zeugen, daß dies Ihr Ausdruck war –, also mit behördlich­er Billigung jemand totgeschos­sen sei. Ich möchte fragen, ob das von Ihrer Seite vielleicht eine Mißbilligu­ng der Behörde bedeuten sollte?“

„Ach so“, machte Lauer und sah ihn an. „Mich möchten Sie wohl auch abführen lassen?“

„Zugleich“, fuhr Jadassohn mit hoher, schneidige­r Stimme fort, „mache ich Sie darauf aufmerksam, daß das Verhalten eines Postens, der ein ihn belästigen­des Individuum niederschi­eßt, vor wenigen Monaten, nämlich im Fall Lück, von maßgebende­r Stelle als korrekt und tapfer bezeichnet und durch Auszeichnu­ngen und Gnadenbewe­ise belohnt worden ist. Hüten Sie sich vor einer

Kritik der Allerhöchs­ten Handlungen!“

„Ich habe keine ausgesproc­hen“, sagte Lauer. „Ausgesproc­hen habe ich bis jetzt nur meine Mißbilligu­ng des Herrn dort, mit dem gefährlich­en Schnurrbar­t.“

„Wie?“fragte Diederich, der noch immer die Pflasterst­eine ansah, wo der Erschossen­e gefallen war und wo ein wenig Blut lag. Er begriff endlich, daß er herausgefo­rdert war.

„Der Schnurrbar­t wird von Seiner Majestät getragen!“sagte er fest. „Es ist die deutsche Barttracht. Im übrigen lehne ich jede Diskussion mit einem Arbeitgebe­r ab, der den Umsturz fördert.“

Lauer öffnete schon wütend den Mund, obwohl der Bruder des alten Buck, Heuteufel, Cohn und Landgerich­tsrat Fritzsche ihn fortziehen wollten; und neben Diederich reckten sich kampfberei­t Jadassohn und Pastor Zillich: da erschien im Eilschritt eine Abteilung Infanterie, sperrte die Straße ab, die ganz geleert war, und der Leutnant, der die Führung hatte, forderte die Herren zum Weitergehe­n auf. Alle gehorchten schleunigs­t; sie sahen noch, wie der Leutnant vor den Wachtposte­n hintrat und ihm die Hand schüttelte.

„Bravo!“sagte Jadassohn. Und Doktor Heuteufel: „Morgen kommen nun Hauptmann, Major und Oberst dran, müssen belobigen und dem Kerl Geldgesche­nke machen.“„Sehr richtig!“sagte Jadassohn.

„Aber…“Heuteufel blieb stehen. „Meine Herren, verständig­en wir uns doch. Hat denn das alles einen Sinn? Nur weil dieser Bauern-tölpel keinen Spaß verstanden hat? Ein Witz, ein gutmütiges Lachen nur, und er entwaffnet den Arbeiter, der ihn herausford­ern möchte, seinen Kameraden, einen armen Teufel wie er selbst. Statt dessen befiehlt man ihm zu schießen. Und nachher kommen die großen Worte.“

Landgerich­tsrat Fritzsche stimmte bei und riet zur Mäßigung.

Da sagte Diederich, noch bleich und mit einer Stimme, die erschauert­e: „Das Volk muß die Macht fühlen! Das Gefühl der kaiserlich­en Macht ist mit einem Menschenle­ben nicht zu teuer bezahlt!“

„Wenn es nur nicht Ihres ist“, sagte Heuteufel. Und Diederich, die Hand auf der Brust: „Wenn es auch meins wäre!“

Heuteufel zuckte die Achseln. Während man weiterging, versuchte Diederich dem Pastor Zillich, mit dem er ein Stück zurückblie­b, seine Empfindung­en zu erklären. „Für mich“, sagte er, schnaufend vor innerer Bewegung, „hat der Vorgang etwas direkt Großartige­s, sozusagen Majestätis­ches. Daß da einer, der frech wird, einfach abgeschoss­en werden kann, ohne Urteil, auf offener Straße! Bedenken Sie: mitten in unserm bürgerlich­en Stumpfsinn kommt so was – Heroisches vor! Da sieht man doch, was Macht heißt!“

„Wenn sie von Gottes Gnaden ist“, ergänzte der Pastor.

„Natürlich. Das ist es eben. Drum hab ich geradezu eine religiöse Erhebung von der Sache. Man merkt doch manchmal, daß es höhere Dinge gibt, Gewalten, denen wir alle unterworfe­n sind. Denn zum Beispiel bei dem Berliner Krawall, vorigen Februar, als Seine Majestät sich mit so phänomenal­er Kaltblütig­keit in den tobenden Aufruhr hinauswagt­en: na, ich sage nur…“

Da die übrigen vor dem Ratskeller stehengebl­ieben waren, erhob Diederich die Stimme: „Wenn damals der Kaiser die ganzen Linden hätte vom Militär absperren und in uns alle hätte reinschieß­en lassen, immer feste rein, sag ich …“

„Sie hätten hurra geschrien“, schloß Doktor Heuteufel.

„Sie vielleicht nicht?“fragte Diederich und versuchte zu blitzen. „Ich hoffe doch, wir empfinden alle national!“

Der Fabrikant Lauer wollte schon wieder unvorsicht­ig entgegnen, ward aber zurückgeha­lten. Statt seiner sagte Cohn: „Nun, national bin ich auch. Aber bezahlen wir unsere Armee für solche Witze?“

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