Als die Pocken nach Dillingen kamen
Etwa 170.000 deutsche Zivilisten fielen in den Kriegsjahren 1870/71 der Viruserkrankung zum Opfer. Warum die Menschen im Dillinger Land verschont blieben
Landkreis Im Februar vor 150 Jahren endete mit einem provisorischen Friedensvertrag in Versailles der Deutsch-Französische Krieg. Der endgültige Sieg der Preußen über die Franzosen wurde schließlich im Mai 1871 in Frankfurt offiziell verbrieft. Ob Pyrrhussieg oder glänzender Triumph, die Zahl der Gefallenen erscheint auf den ersten Blick als die treffendste Größe, um einen Krieg zu bewerten. Im Deutsch-Französischen Krieg fielen auf beiden Seiten insgesamt etwa 200.000 Soldaten, auf Schlachtfeldern oder in Kriegsgefangenschaft. Doch nicht nur an der Front forderte der Krieg seine Opfer, sondern oft auch auf dem Krankenbett.
Die durch den Deutsch-Französischen Krieg ausgelöste Pockenepidemie griff während des Krieges um sich und forderte sowohl unter Soldaten als auch Zivilisten ihre Opfer. Die Pocken, damals auch als Blattern bezeichnet, trieben auch noch in den folgenden zweihundert Jahren nach der Erfindung einer Immunisierung 1796 ihr Unwesen, bis sie im Jahr 1980 von der WHO als ausgerottet erklärt wurden.
1871 erreichte die Krankheit schließlich Dillingen. Aus einer zeitgenössischen Doktorarbeit des Arztes Ludwig Koch, erfahren wir, dass im Jahr 1871 die Blattern in Dillingen Einzug gehalten haben. Koch, über den sonst wenig zu erfahren ist, außer, dass er in München studiert hatte, beschäftigt sich in seiner Dissertation vor allen Dingen mit den in Dillingen angewandten Behandlungsmethoden.
Obwohl Koch seine Dissertation mit dem Titel „Die Blatternepidemie in Dillingen“überschreibt, so scheint es, als habe der Ausbruch in den Kriegsjahren, ähnlich wie der Krieg selbst, Dillingen und seine Bewohner ohne größere Schäden zurückgelassen. Zu diesem Schluss jedenfalls kommt man, wenn man nach Stadtratsdebatten aus dieser Zeit sucht. Die Stadtarchivarin Felicitas Söhner hat sich auf die Suche nach der Seuche gemacht: „Es liegen keine Aufzeichnungen über Stadtratsdebatten vor, in denen die Blatternepidemie behandelt wird“, sagt Söhner auf Anfrage unserer Zeitung.
Dennoch gebe es andere Indizien aus der Zeit, aus denen man mehr erfahren könne, wie die Dillinger die Epidemie so gut überstehen konnten. Doch wie kam es zum damaligen Ausbruch? Aus der Doktorarbeit von Ludwig Koch sowie anderen zeitgenössischen Quellen erfährt man, dass die Blattern vor allem durch die französischen Truppen wieder in Bayern Einzug hielten. Einem Beitrag im Buch „Medical History“über die Verbreitung der Pocken 1870 bis 1871 von Matthew Smallman-Raynor und Andrew D. Cliff ist zu entnehmen, dass der erste Ausbruch wohl in Paris zu verorten ist. Französische Kriegsgefangene brachten das Virus schließlich mit nach Deutschland.
Die Autoren schreiben, dass während des kurzen Deutsch-Französischen Krieges in Deutschland etwa 180.000 Menschen den Pocken zum Opfer fielen. Besonders betroffen waren dabei deutsche Zivilisten, während in den Reihen der preußischen Armee nur etwa 300 Menschen an den Pocken starben.
In der Chronik von Jospeh Keller, der sich darin auch zu einem großen Teil mit der Dillinger Garnisonsgeschichte beschäftigt, heißt es dazu: „Die ersten von diesen Gefangenen kamen am 15. Oktober (1870) abends 8 Uhr … hier an [...] und brachten zwei unwillkommene Gäste
in unsere Stadt: Typhus und die schwarzen Blattern waren es, welche bei ihnen herrschten, aber bald auch auf die Einwohnerschaft übergriffen, und an gar vielen Häusern musste die Tafel angeschlagen werden: „Hier herrschen die Blattern“. Niemand habe solche Häuser betreten dürfen, so Keller weiter.
Der Pockenerreger ist ein Virus, das über Tröpfchen, seltener auch über Blut auf der Kleidung der Infizierten übertragen wird. Nach der Infektion dauert es meist zwölf Tage, bis die Viren ihre volle Wirkung entfalten: Die Patienten bekommen Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen. Was folgt, sind die kleinen Pusteln, die den Pocken ihren Namen geben. Wer eine Pockeninfektion überstanden hatte, war häufig deutlich zu erkennen: Patienten wurden durch Narben entstellt, manche erblindeten sogar oder wurden unfruchtbar.
Ein Bericht des Staatsministeriums des Innern von 1874 notiert, dass in Schwaben die Blattern nur sporadisch auftraten. Dennoch heißt es dort weiter: „Auch in den Physikatsberichten Schwabmünchen und Dillingen gewannen die Blattern, durch französische Kriegsgefangene (auf dem Lechfelde) eingeschleppt, einige Ausdehnung.“Bemerkenswert sei gewesen, dass sich die französischen Soldaten als „revacciniert“, also als erstgeimpft mit einer Auffrischungsimpfung erwiesen.
Dieser Darstellung widersprechen die Beobachtungen des Arztes Koch in Dillingen. Er schreibt: „Nach sorgfältigen Erkundigungen, die wir bei mehreren intelligenten französischen Gefangenen erhoben, ist erst seit etlichen Jahren in der französischen Armee die Vaccination oder bei den schon Geimpften die Revaccination gesetzlich angeordnet, wurde aber schon in Friedenszeiten nicht gewissenhaft durchgeführt.“Koch schreibt weiter, dass nur sehr wenige in Dillingen stationierte deutsche Soldaten infiziert waren, denn in der preußischen Armee bestand seit 1834 eine Pflicht zur Auffrischungsimpfung. Bei den gesunden französischen Kriegsgefangenen bemerkt Koch zudem Pockennarben. Der Arzt stellt in seiner Arbeit fest, dass vor allen Dingen Dillinger erkrankten, die engen Kontakt mit den Kriegsgefangenen hatten, so etwa Kaufleute, Wirte oder Handwerker. Er sieht dies als einen Beweis, dass sich eine Pockenansteckung über Berührung und Keime vollziehen müsse und nicht über verunreinigte Luft oder verunreinigtes Wasser. Die Strategie in Dillingen, nämlich die strikte Isolierung der Kranken sowie die Desinfektion der Gegenstände, die mit den Kranken in Berührung gekommen sind, schien aufzugehen.
Koch war zudem ein Anhänger der allgemeinen Impfpflicht. In Bayern trat das erste Impfgesetz schon im Jahr 1807 in Kraft, wohl auch ein Grund, warum die Erkrankungen in Dillingen und Umgebung insgesamt so „milde und gutartig verliefen“, wie es in zeitgenössischen Quellen heißt. Im Jahr 1871 verstarben vier Menschen aus dem Bezirk Dillingen an den Blattern, ein Jahr darauf stieg die Zahl auf 37. In den Folgejahren nahm die Sterbezahl dann jedoch wieder rapide ab und sank bald darauf sogar auf null.
Das Deutsche Reich, das sich nach dem Deutsch-Französischen Krieg gründete, löste das bayerische Impfgesetz 1874 mit einem eigenen Impfgesetz ab. In zahlreichen Amtsblättern der Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg finden sich daher Ankündigungen, wo die Bürger ihre Kinder zur Pockenimpfung anmelden konnten.
Das „Tag- und Anzeigblatt für Stadt und Land“, das Informationen über den Landkreis Dillingen druckte, etwa schreibt 1874: „Die Revaccinationen werden an den bezeichneten Impfterminen von dem amtlichen Impfarzte unentgeltlich vorgenommen.“Die Impfung war kostenlos, wer sich weigerte, durfte mit hohen Geldbußen rechnen. Eingebunden in die Durchsetzung der Impfpflicht wurden auch die Lehrer, so etwa die, die an der „Taubstummen-Anstalt“in Dillingen unterrichteten. Im Dillinger Tag- und Anzeigenblatt von 1875 etwa heißt es dazu: „[...] wer von Ihnen dieser auferlegten Verpflichtung nicht nachkommt [werde] mit Geldstrafe bis zu 100 Mark bestraft.“Die Kaufkraft einer Mark aus dem Jahr 1873 entspricht dabei etwa 6,70 Euro. Den Pocken war in Schwaben nur mit einer konsequent durchgeführten Impfkampagne Herr zu werden, ehe die Krankheit 100 Jahre später vollends ausgerottet wurde.