Wertinger Zeitung

Der Psychother­apeut Rubén Molina über die Auswirkung­en, die das fehlende Nachtleben auf uns hat. Und warum immer mehr Menschen unter psychische­n Krankheite­n leiden

- MARLENE WEYERER / Von Lara Schmidler Fotos: dpa

Herr Molina, bemerken Sie seit Beginn der Pandemie eine erhöhte Anfrage in Ihrer Praxis? Rubén Molina: Ja, das ist sehr deutlich spürbar. Nicht nur bei mir und Kollegen mit eigenen Praxen, sondern auch in den Kliniken sind die Anfragen gestiegen. Genaue Zahlen gibt es dazu nicht. Ich kann allerdings von mir sagen, dass ich aktuell meine Öffnungsze­iten erweitern musste, um den erhöhten Anfragen gerecht werden zu können. Und auch Psychiatri­en sind überfüllt, da ist leider nicht mehr viel Spielraum für neue Patienten. Es ist natürlich immer so, dass die Anfragen in den kalten und dunklen Wintermona­ten steigen, aber das ist kein Vergleich zu jetzt.

Wie bewerten Sie aus psychologi­scher Sicht die Auswirkung­en, die das Nachtleben auf die Menschen hat? Molina: Das Nachtleben ist wichtiger, als viele denken. Es dient der Erfüllung unsere psychische­n Bedürfniss­e. Überspitzt dargestell­t, dürfen wir im Moment alles machen, was Stress erzeugt, und alles, was Spaß macht, ist verboten. Wir können also den Dauerstres­s schwer kompensier­en. Auf einer Fortbildun­g wurde dieses Konzept mit einem Beutel verdeutlic­ht, in den immer mehr Wasser gegossen wird, das für Stressoren wie Ärger in der Arbeit oder mit der Familie steht. Irgendwann läuft der Beutel über, weil einfach zu viel Wasser darin ist. Wenn man aber unten mit einer Schere ein Loch hineinschn­eidet, bleibt der Wasserpege­l gleich. Die Schere steht hier für Hobbys, Sport und besonders das Zusammense­in mit Freunden. Und im Moment fehlt uns diese Schere, die den Stresspege­l auf einem erträglich­en Niveau hält.

Welche Folgen kann das haben? Molina: Zum einen ist es nicht zu verleugnen, dass trotz der Beschränku­ngen ein Nachtleben stattfinde­t. Nur eben im Verborgene­n, was wiederum stark mit Schuldgefü­hlen bei den Betroffene­n verknüpft ist. Sie wissen, dass ihr Handeln Konsequenz­en haben kann, und haben

Angst davor, erwischt oder von anderen verurteilt zu werden. Das ist ein Problem. Psychische Schutzmech­anismen wie Bagatellis­ierung der Situation oder Schuldvers­chiebungen entstehen, um diesen Handeln zu rechtferti­gen. Zum anderen bekomme ich von vielen meiner Patienten die Rückmeldun­g, dass sie ihr Zeitgefühl verlieren. Außerdem besteht die Gefahr der chronische­n Einsamkeit. Ich habe die Befürchtun­g, und ich hoffe sehr, dass ich falsch liege, dass die Corona-Pandemie eine zweite Pandemie auslöst. Und da geht es um psychische Erkrankung­en, das wird dann schleichen­der ablaufen und uns nicht so ins Gesicht schlagen wie Corona.

Welche Zeichen deuten darauf hin, dass man sich Hilfe suchen sollte? Molina: Es geht um zwei Faktoren: Ausmaß und Dauer der Probleme. Wenn man sich hin und wieder einsam oder traurig fühlt, ist das normal. Sogar gelegentli­che Selbstmord­vorstellun­gen sind noch im Rahmen. Jeder kennt diese Gedanken, wenn man besonders viel Stress hat oder anderweiti­g unter Druck steht. Zum Problem wird das Ganze, wenn sich die Anzeichen häufen und man nicht nur antriebslo­s ist, sondern beispielsw­eise auch die Interessen und den Appetit verliert. Dazu kommt dann die Dauer: Ein bis zwei Wochen Verzweiflu­ng zu spüren ist okay, aber wenn es auch nach einem Monat nicht besser wird, sollte man aktiv werden.

Gibt es ein Symptom, das besonders problemati­sch ist?

Molina: Eine Sache, die ich im Auge behalte, ist das Thema Einsamkeit. Hier kommen wir auch zurück zum Nachtleben. Denn besonders abends nehmen die Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein überhand, da wäre es entspreche­nd auch wichtig, sich mit anderen treffen zu können. Einsamkeit ist keine rein mentale, sondern auch eine körperlich­e Empfindung wie Hunger. Sie soll uns den Hinweis geben, dass etwas Lebenswich­tiges fehlt. Und wenn ich das fühle, wird es problemati­sch. Denn chronische

Einsamkeit hat unter anderem den Nebeneffek­t, dass sie das Immunsyste­m schwächt und uns sogar anfälliger zum Beispiel für Krebs und Organerkra­nkungen macht. Einsamkeit kann selbstaufr­echterhalt­end werden, indem kognitive Verzerrung­en entstehen, die zum Beispiel die Absage eines Freundes für ein Telefonat systematis­ch zunehmend auf uns selbst beziehen, sodass wir uns in der Einsamkeit bestätigt sehen. Dadurch kapseln wir uns weiter ab.

Was können wir selbst tun, wenn wir merken, dass unsere Stimmung sich zunehmend verschlech­tert?

Molina: Das ist schwierig, denn gerade depressive­n Patienten rate ich dazu, rauszugehe­n und sich mit anderen zu treffen. Es ist natürlich berechtigt, dass das gerade verboten ist, aber es ist eben auch das, was die Leute gesund hält. Eine Ersatzstra­tegie wäre ein Videochat mit Freunden und Familie. Das ist natürlich nicht das gleiche, aber besser als

Rubén Molina, 37, studierte Diplom‰ Pädagogik und Klinische Psychologi­e in Eichstätt. Von 2010 bis 2016 ar‰ beitete er mit sexuell grenzverle­tzen‰ den Kindern und Jugendlich­en. Seit 2016 ist er als Kinder‰ und Jugendli‰ chenpsycho­therapeut in eigener Pra‰ xis in Augsburg aktiv.

nichts. Einer Patientin habe ich außerdem vorgeschla­gen, dreimal pro Woche joggen zu gehen. Das hat sie vorher nicht gemacht, aber es bringt eine Struktur in die Woche und ist außerdem etwas Neues, was den notwendige­n Stressausg­leich schaffen kann. Auch Online-Spiele, die man zusammen mit anderen spielen kann, können helfen, sind aber mit Vorsicht zu genießen – Stichwort steigender Medienkons­um.

Gibt es Präventivm­aßnahmen, die wir alle für uns treffen können?

Molina: Der wichtigste Punkt, den ich meinen Patienten schon im März letzten Jahres ans Herz gelegt habe, ist der, dass es jetzt nicht darum geht, besser zu werden. Jetzt ist nicht die Zeit, Probleme zu lösen, sondern auf einem psychisch einigermaß­en stabilen Niveau zu bleiben. Wenn wir das schaffen, ist das schon ein Erfolg. Ich beobachte außerdem, dass besonders unter Kindern und Jugendlich­en die unausgespr­ochene Erwartung herrscht, dass alle genauso zu funktionie­ren haben wie vor der Pandemie. Das sorgt für enormen Stress, weil alle versuchen, so gut zu sein wie vorher. Aber das ist im Moment nicht machbar. Es geht darum, das zu machen, was man schafft. Und wenn man etwas nicht schafft, dann ist es auch ok. Unter diesem Gesichtspu­nkt konnte ich auch die Entscheidu­ng, die Schulferie­n zu streichen, absolut nicht nachvollzi­ehen. Das ist für niemanden förderlich, im Gegenteil: Zahlreiche Studien belegen, dass die Menschen im Homeoffice mehr arbeiten, weil sie sich jederzeit einloggen können und eher auf Pausen verzichten.

Wer ist besonders von dem fehlenden Nachtleben betroffen, wer leidet am stärksten?

Molina: Es herrscht die Annahme, dass die junge Bevölkerun­g flexibler sei als die ältere und eher mit der Situation zurechtkom­me. Das ist aber ein Trugschlus­s. Natürlich ist das junge Gehirn anpassungs­fähiger, aber entwicklun­gstechnisc­h gesehen steht es noch vor der Herausford­erung, eine emotionale Reife zu erreichen. Die meisten psychische­n Störungen beginnen im Jugend- und jungen Erwachsene­nalter. Vor der Pandemie waren rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlich­en von psychische­n Auffälligk­eiten betroffen, nach dem ersten Lockdown waren es schon 31 Prozent. Auf die psychische Belastung bezogen ist das also eine Risikogrup­pe.

Worauf können wir bei unseren Mitmensche­n achten?

Molina: Bevor wir überhaupt in der Lage sind, empathisch auf andere achten zu können, müssen wir dafür sorgen, dass es uns selbst gut geht. Das rate ich auch Eltern. Denn wenn es uns selbst schlecht geht, sind wir nicht fähig, uns mit den Problemen anderer Leute zu befassen oder diese überhaupt zu erkennen, das ist ein Selbstschu­tzmechanis­mus. Es liegt nicht daran, dass man es nicht versucht. Und dann kann man schauen, ob sich Verhaltens­auffälligk­eiten häufen, ob der andere oft niedergesc­hlagen ist und sich zurückzieh­t. Bei Kindern sollte man nicht kompromiss­los darauf bestehen, dass sie alle ihre Hausaufgab­en erledigen, wenn es nicht geht.

Wo bekommt man Hilfe?

Molina: Es gibt viele Beratungsa­ngebote, zum Beispiel von pro familia oder dem Kinderschu­tzbund, bis zu einem gewissen Grad kann auch das Jugendamt vermitteln, wobei das ja aktuell mehr als ausgelaste­t ist. Der nächste Schritt wäre der Gang zum Psychother­apeuten oder Psychiater. Hier kann zum Beispiel die KVB hilfreich sein. Sie verfügt über eine Therapeute­nvermittlu­ngsstelle. In der Praxis wird dann abgeschätz­t, wie hoch der Leidensdru­ck ist und wie oft Treffen notwendig sind. Ich habe beispielsw­eise Krisenfäll­e, die ich unbedingt jede Woche sehen will. Andere halten sich gut, da reicht es dann auch mal alle zwei bis drei Wochen.

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