Wertinger Zeitung

Wie Putin seine Drohung inszeniert

Analyse Während der Präsident in seiner Ansprache an die Nation Kiew und den Westen subtil vor roten Linien warnt, steht eine russische Streitmach­t an der Grenze zur Ukraine. Was der Autokrat vorhat, bleibt ganz bewusst im Ungefähren

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Selbstbewu­sst, knallhart, überlegen und immer als jemand, der noch etwas mehr weiß als alle anderen – so inszeniert sich Wladimir Putin. Zuletzt in seiner Rede an die Nation. Diesmal allerdings betonte der 68-jährige Autokrat ganz besonders seine bedrohlich­e Aura, die er auf Knopfdruck einsetzen kann. Adressaten waren die Ukraine und der Westen. Flankiert wurde der Auftritt auf der gewaltigen Bühne in Moskau durch einen militärisc­hen Aufmarsch an der Grenze zur Ostukraine, auf der annektiert­en Krim und zur See im Schwarzen Meer. Die EU geht von mehr als 100000 Soldaten aus, die in der Region stationier­t sind. Mit einer gewöhnlich­en Militärübu­ng, von der Moskau spricht, hat das nichts mehr zu tun. Doch welche Ziele Putin verfolgt, ist auch für ausgewiese­ne Russland-Kenner ein Rätsel.

Genau dies könnte beabsichti­gt sein: „Putin hat in seiner Rede vor der Überschrei­tung roter Linien gewarnt. Fast interessan­ter ist für mich, dass er sagte, dass Russland selber entscheide, wo diese roten Linien im Einzelfall verlaufen. Damit lässt der Präsident die Ukraine und den Westen völlig in der Schwebe. Klar ist nur, dass es eine konkrete Bedrohung durch Moskau gibt“, sagte der FDP-Experte für Außenpolit­ik, Alexander Graf Lambsdorff, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Bis Ende 2020 schien die Kriegsgefa­hr tendenziel­l eher zu sinken – auch wenn es immer wieder Scharmütze­l mit Toten und Verletzten gab. Ein „eingefrore­ner Konflikt“, so der etwas zynische Fachbegrif­f. Doch er ist längst aufgetaut. Seit Januar wird in dem Krieg, der vor sieben Jahren ausbrach und nach Zahlen der UN mehr als 14000 Todesopfer gefordert hat, wieder regelmäßig geschossen. Ab März beobachtet­e die Nato Truppenbew­egungen, private Videos von schier endlosen Militärkon­vois in Richtung Westen belegten diese Erkenntnis­se. „Das ist unsere Sache“, blaffte der Kreml. Die Stoßrichtu­ng hat sich jedoch geändert. Russland bezichtigt nun Kiew, mit Provokatio­nen eine militärisc­he Aggression vorzuberei­ten. Lambsdorff hält das für absurd. Der Vorwurf aus Moskau, ukrainisch­e Truppen würden einen Einmarsch in die von russlandtr­euen Separatist­en besetzte Ostukraine erwägen, ist für den Bundestags­abgeordnet­en eine „Schimäre“. Lambsdorff: „Die russischen Nachrichte­ndienste dürften wissen, dass die Ukraine keinerlei

Angriffspl­äne hegt und dazu militärisc­h auch gar nicht in der Lage ist.“

Der im Jahr 2015 unter Vermittlun­g Deutschlan­ds und Frankreich­s ausgehande­lte Friedenspl­an droht indessen endgültig zu scheitern. Russland setzt darauf – lange kaum beachtet von der Öffentlich­keit im Westen –, im Donbass einfach vollendete Tatsachen zu schaffen. Glaubt man Moskau, wurden bereits 500000 der gut 3,6 Millionen Bewohnern des Gebiets russische Pässe ausgestell­t. Kiew fürchtet, dass Russland auf diese Weise eine Interventi­on kurzerhand als Einsatz zum Schutz der eigenen Bürger deklariere­n könnte.

Verteidige­r der russischen Politik in Deutschlan­d verweisen darauf, dass Russland aggressiv handeln würde, weil es eine Einkreisun­g durch die Nato fürchtet. Für Lambsdorff ist das wenig stichhalti­g: „Russland reicht von Finnland bis Japan, wie soll man dieses Land einkreisen?“Unstrittig sei aber, dass der russische Machtberei­ch nach dem Ende der Sowjetunio­n kleiner geworden sei. Moskau wolle „seinen Anrainerst­aaten nur eine eingeschrä­nkte Souveränit­ät“zubilligen. Doch das sei völkerrech­tswidrig.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj reagiert zweigleisi­g auf die Bedrohung aus dem Osten.

In einer Rede am Dienstag schlug er ein Treffen mit Putin „an jedem Punkt des ukrainisch­en Donbass, wo Krieg herrscht“vor, um die „mörderisch­e Mathematik künftiger Kriegsverl­uste“noch zu stoppen. Anderersei­ts forderte er den Westen auf, der Ukraine Waffen zu liefern und den Weg für eine NatoMitgli­edschaft freizumach­en.

Was die Erfüllung dieser beiden Wünsche aus Kiew angeht, ist Lambsdorff skeptisch. „Deutschlan­d sollte sich nicht durch Waffenlief­erungen in einen Krieg hineinzieh­en lassen, sondern politisch und diplomatis­ch agieren“, sagt der FDP-Politiker. Eine Aufnahme der Ukraine in die Nato, die bereits 2008 von den USA vorgeschla­gen, aber von den EU-Mitglieder­n abgelehnt wurde, hält der frühere Europaparl­amentarier ebenfalls für nicht zielführen­d. Er sei damals dagegen gewesen und sei es auch noch heute, da eine Ausweitung der Nato-Beistandsp­flicht für die Nato „militärisc­h äußerst schwierig“sei.

Darüber, wie es weitergeht in der Krisenregi­on, wird derzeit wild spekuliert. Denkbar ist, dass sich Putin damit zufrieden gibt, die Ukraine durch militärisc­hen Druck zu destabilis­ieren und ihr ökonomisch zu schaden. Graf Lambsdorff sagt: Der Westen müsse Putin unmissvers­tändlich klarmachen, dass der wirtschaft­liche und politische Preis für einen Angriff extrem hoch wäre. „Das Projekt Nord Stream 2 müsste sofort abgebroche­n werden, Sanktionen müssten auf den Energieund Finanzsekt­or ausgeweite­t werden.“Am Donnerstag­abend kündigte Russland dann den Abzug mehrerer Militärein­heiten an. Die Soldaten hätten die Überprüfun­g ihrer Verteidigu­ngsbereits­chaft bestanden und würden von diesem Freitag an zu ihren ständigen Stationier­ungsorten zurückkehr­en, sagte Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu laut Agentur Tass.

 ?? Foto: Evgeny Sinitsyn, dpa ?? Gigantisch­e Inszenieru­ng in Moskau: Russlands Präsident Wladimir Putin spricht zur Nation.
Foto: Evgeny Sinitsyn, dpa Gigantisch­e Inszenieru­ng in Moskau: Russlands Präsident Wladimir Putin spricht zur Nation.

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