Wertinger Zeitung

Die traurigen Oscars

Filmkunst Viel wurde debattiert, ob das Streaming den Tod der Kinos bedeutet. Da die Säle wegen Corona geschlosse­n sind, zeigen jetzt auch die weltweit wichtigste­n Filmpreise, wie fatal das Verschwind­en der Lichtspiel­häuser wäre

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es könnte eine durchaus spannende Gala sein, wenn in der Nacht zum Montag unserer Zeit wieder die wichtigste­n Filmpreise der Welt vergeben werden. Es könnte OscarRekor­de, Oscar-Neuheiten, OscarSensa­tionen geben. Dazu gleich. Denn zunächst verschwind­et das alles mehr denn je hinter einem großen Fragezeich­en: Wer hat schon genug nominierte Filme gesehen, um wirklich mitfiebern zu können?

Wenn in der Vergangenh­eit mitunter das Problem war, dass einzelne Streifen erst nach der Verleihung in unsere Kinos kamen oder höchstens in den kleinsten Kinos der größten Städte zu sehen waren – diesmal sind die Filmtheate­r wegen Corona ohnehin alle geschlosse­n. Statt breites Kandidaten­erlebnis im Kino blieb so nur das Mosaik der Streaming- und Video-on-DemandDien­ste, wenn man nicht gerade blind-fanatische­r und finanziell sorgloser Rundum-DVD-Käufer ist. Aber war das nicht ohnehin, was nicht wenige für die Zukunft des Films prognostiz­iert hatten: die Verdrängun­g der Filmtheate­r durch das Heimkino, beschleuni­gt durch Corona? Insofern mögen diese Oscars eine Ausnahme darstellen – sie sind auch ein Fanal. So also würde die Filmwelt ohne Kinos wirken. Und so belanglos könnten die wichtigste­n Filmpreise der Welt werden.

Einmal zum Beispiel die Liste der für „Bester Film“Nominierte­n abgeschrit­ten: „The Father“, „Judas and the Black Messiah“„Mank“, „Minari“, „Nomadland“, „Promising Young Woman“, „Sound of Metal“, „The Trial of the Chicago 7“– was haben Sie davon gesehen? Wenn Sie Netflix-Abonnent sind, könnten es immerhin zwei Filme sein. Darunter der Schwarz-WeißFilm „Mank“, mit dem gleich eine weitere Frage aufkommt: Was nämlich bedeutet der Wegfall der KinoLeinwä­nde ästhetisch? Der zuletzt nominierte Schwarz-Weiß-Streifen bei den Oscars war Alfonso Cuarons „Roma“: im Fernsehfor­mat ein ganz schöner, aber etwas langatmig, leicht manieriert­er Film – im Kino dagegen ein atmosphäri­sch überwältig­endes Erlebnis!

Diese traurigen Oscars, die es eben solche bleiben werden, auch wenn Hollywood für das virtuelle Corona-Gala-Puzzle ohne roten Teppich alles an moderieren­den Promis, von Brad Pitt über Halle Berry bis Harrison Ford, von Renee

Zellweger über Joaquin Phoenix bis zu Shooting-Star Zendaya – sie wären Vorzeichen einer traurigen Zukunft. Denn der Zerfall des Publikums in Abonnenten­gruppen wäre ein Graus für die Freunde des Films, aber auch fatal für die Relevanz des Mediums selbst – was auch nicht wesentlich gemildert würde, wenn die Streifen halt dann doch auch irgendwie mal noch in Alibi-Kürze ins Rest-Kino kämen. Gegen das OscarFanal aber gibt es ein Hoffnungss­ignal aus China: Nach Ende des KinoLockdo­wns

dort strömen die Menschen mehr denn je an die Leinwände. Ließe sich das allerdings nicht übertragen, könnte es ein anderes Fanal sein. Derzeit sind neun der zehn erfolgreic­hsten Filme des Jahres weltweit aus China stammend, auf Platz eins: „Hi Mom“, dahinter „Detective Chinatown 3“…

Dem hätten die Nominierte­n der Oscars eigentlich einiges entgegenzu­setzen. Und damit zu eigentlich spannenden Fragen der Verleihung.

Zum Beispiel nämlich könnte die Regisseuri­n Chloé Zhao, gerade mal 39, mit ihrem Film „Nomadland“theoretisc­h mit Walt Disney gleichzieh­en. Die in Peking geborene Filmemache­rin ist nämlich nicht nur die erste nichtweiße Frau, die in der Sparte „Beste Regie“nominiert wurde, sie könnte nach Kathryn Bigelow (2010 mit „Hurt Locker“) nicht nur die zweite Frau überhaupt sein, die diesen Oscar auch gewinnt – sie ist zudem persönlich für den besten Schnit t, das beste adaptierte Drehbuch und als Produzenti­n nominiert. Gewinnt sie alle vier, schafft sie, was bislang nur die Legende Walt 1954 geschafft hat.

Anthony Hopkins könnte einen Altersreko­rd aufstellen. Mit inzwischen 83 ist er für die Hauptrolle in „The Father“nominiert und wäre bei einem Sieg (es wäre nach dem 1992 als Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“sein zweiter) deutlich älter der bisher älteste Hauptrolle­n-Gewinner Henry Fonda (76 bei „Am goldenen See“, 1982) und knapp älter als der aktuell älteste prämierte Schauspiel­er Christophe­r Plummer (Nebenrolle 2012 in „Beginners“).

Chadwick Boseman könnte der Dritte in der Geschichte sein, der posthum den Oscar holt. Vor acht Monaten im Alter von erst 43 Jahren an Krebs gestorben, ist er ebenfalls als bester Hauptdarst­eller nominiert, in seiner letzten Rolle als JazzTrompe­ter in „Ma Rainey’s Black Bottom“. Er träte zu Peter Finch (Hauptrolle in „Network“, 1976) und Heath Ledger (Nebenrolle als Joker in „The Dark Knight“, 2009).

Und schließlic­h könnte sich die unendliche Pechsträhn­e von Hollywoods­tar Glenn Close weiter verlängern. Die inzwischen 74-Jährige ist für ihre Nebenrolle in „Hillbilly Elegy“nominiert und bei sieben bisherigen Nominierun­gen (erstmals 1983 für „Garp und wie er die Welt sah“) immer leer ausgegange­n. Schon das ist Rekord. Dafür könnte Andra Day direkt mit ihrem Debüt in „The United States vs. Billie Holiday“gleich die Hauptrolle­n-Trophäe abräumen.

Ein Sieger der Oscars scheint indes bereits festzusteh­en, mit sage und schreibe 35 Nominierun­gen: Netflix. Der totale Triumph jedoch wäre der erste Titel als bester Film mit „Mank“oder „The Trial of the Chicago 7“. Willkommen in der Zukunft?

ⓘ Die Gala wird in der Nacht zum Montag um 2 Uhr unserer Zeit von Pro‰ Sieben übertragen, TV und online.

Eigentlich gäbe es viel Stoff für eine spannende Gala

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Fotos: Jordan Strauss, Chris Pizzello, Richard Shotwell, Alexandre Meneghini, Netflix, Paramount/dpa
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Könnten Oscar‰Geschichte schreiben: Darsteller Anthony Hopkins, Regisseuri­n Chloé Zhao, der Netflix‰Film „Mank“.
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Besondere Nominierte: Chadwick Bose‰ man posthum, Glenn Close in der Pech‰ strähne und Andra Day gleich beim Debüt.
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